Es herrscht ein rauer Wind in den sozialen Medien. Das ist keine neue Erkenntnis und man nimmt es meist so hin. Wie beim Sterben auch, betrifft es ja sowieso nur die Anderen. Frischt nun der Wind in einer virtuellen Unterhaltung von einer leichten Brise zum Sturm oder gar Orkan auf, holt man sich eine Tüte Popcorn und beobachtet das Geschehen. Es hat schon einen gewissen Unterhaltungswert, wenn Leute verbal niedergeknüppelt werden. Früher schaute man sich einmal im Monat „Pleiten, Pech und Pannen“ im TV an, heute wird die Schadenfreude 24 Stunden am Tag bedient. Es ist schon lustig zuzusehen, wie es fremde Leute auf die Fresse legt. Dem Internet sei dank!
Oft beginnt es ganz harmlos. Bei schönstem Wetter und klarer Sicht liest man sich durch verschiedene Plattformen und stolpert über eine Frage, ein Ansinnen oder eine Meinung. In einer Millisekunde entscheidet dann unser Gehirn, ob wir weiterscrollen oder verweilen. Entscheidet sich das Gehirn, das ja im Grunde keine Ahnung vom neuzeitlichen Verhalten im Internet hat, sondern immer noch in seiner analogen steinzeitlichen Höhle sitzt, entscheidet es sich also zum verweilen, dann ist Vorsicht geboten. Dann kann es nämlich passieren, dass die ebenso analog gesteuerten Finger etwas in die Tastatur hauen, dass man lieber für sich behalten hätte: man schreibt einen Kommentar.
Schriftliche Kommunikation ist für sich alleine schon schwierig genug, da ja ergänzende Ausdrucksmittel wie Mimik und Gestik fehlen. In den sozialen Medien verschärft sich die Problematik um ein Vielfaches, weil man immer das Gefühl hat, schnell sein zu müssen. Oft vergißt man in dieser virtuellen Hetze dann das nachdenken und schreibt drauflos. Und dann hat man den Salat, bzw. den Sturm im Wasserglas. Einer fühlt sich mit Sicherheit auf den Schlips getreten oder kann dem Geschriebenen intellektuell nicht folgen und ruft sogleich zur virtuellen Hatz auf.
Kluge Benutzer der virtuellen Foren steigen in diesem Moment aus der Unterhaltung aus.
Die weniger Klugen und diejenigen, die naiv genug sind und versuchen, ihre Ansichten der Revision klarer zu formulieren, bleiben. Aber der Zug in Richtung kleinster gemeinsamer Nenner ist schon abgefahren, jetzt geht es nur noch darum aufgestaute Wut loszuwerden.
Die Ausgangsfrage, das Ansinnen oder die zuerst geäußerte Meinung interessiert schon lange keinen mehr. Die Schaulustigen wollen das virtuelle Blut fließen sehen und sie tun alles dafür, dass es literweise fließt.
Kommentar um Kommentar wird im Sekundentakt abgegeben. Schließt man die Augen, kann man förmlich sehen, wie den Kommentierenden der Geifer aus den Mundwinkeln tropft. Jeder einzelne Kommentar gleicht einem Stein, den man auf das virtuelle Opfer schleudert.
Nicht das wir uns falsch verstehen: in diesem Zusammenhang bedeutet der Begriff „Opfer“ nicht unbedingt, dass der- oder diejenige unschuldig am Entstehen des Sturmes ist. Der Begriff soll lediglich als Statthalter und inneres Bild dienen, sich die Situation zu vergegenwärtigen.
Die Dynamik solcher Diskussionen (eigentlich sind es ja keine, da ja niemals ein Konsens angestrebt wird), ist immer gleich: aus allen Ecken kommen nun die Schaulustigen und weil gerade so viele virtuelle Steine rumliegen, wirft eben jeder mal einen.
Das Opfer wird so lange mit negativen Attributen oder Beleidigungen bombardiert, bis es sich zurück zieht. Und selbst dann wird noch mit Steinen geworfen.
Schaut man sich solche Diskussionen mit etwas Abstand an, fällt eine Sache besonders auf: man hält einem Diskutanten (möglicherweise zu Recht) vor, er ließe es an Feingefühl mangeln, nimmt dann den dicksten und schwersten Stein den man finden kann und schleudert ihn mit voller Wucht auf den vermeintlichen Übeltäter. Grober und damit widersprüchlicher geht’s kaum, aber das blendet unser Steinzeitgehirn gerne mal aus.
In der Gruppe der Gleichgesinnten und im Schutze der vermeintlichen Anonymität wirft es sich einfach befreiter. Wenn dann das Blut bei einem virtuellen Treffer spritzt und man sich gegenseitig zujubelt, merkt man gar nicht mehr, wie schäbig man sich selbst benimmt.
Wildfremde Menschen gehen aufeinander los, beschimpfen sich wüst und fordern gleichzeitig Empathie von ihrem gegenüber. Man stelle sich folgende Szene als inneres Bild vor: zwei Leute halten das Opfer fest, ein Dritter kloppt ihm immer wieder mit dem Stein auf den Kopf und schreit: „Empathie! Wo bleibt dein Anstand, du arroganter Zeitgenosse?“
Na, wird’s klarer? Gut.
Wer bis hier durchgehalten hat, fragt sich nun bestimmt: ja, darf ich dann gar nicht mehr dagegen halten und meine Ansicht vertreten? Soll ich mich in Zukunft aus jeder Diskussion heraushalten, aus Furcht, ich könnte virtuell gesteinigt werden? Wie soll und darf ich dann mit Menschen umgehen, die ihrerseits Hass und Menschenfeindlichkeit im Internet verbreiten?
Ein erster und einfacher Schritt wäre möglicherweise, einfach innezuhalten bevor man etwas schreibt. Sich zu überlegen, ob sich die virtuelle Welt auch ohne den eigenen Kommentar weiterdreht. Sich in der Millisekunde der zerebralen Entscheidung über den Mehrwert des eigenen Kommentars für die Welt bewußt zu werden.
Eine weitere Option für einen gesunden Umgang miteinander, ist eine möglichst klare Formulierung seiner Ansicht. „Du blöde Sau du!“ ist zum Beispiel sehr klar formuliert, aber hier nicht gemeint. Wer den inneren Kinski befreien will, kann das an anderen Orten machen, im virtuellen Bereich ist er fehl am Platz. Klar formuliert heißt also: sich zur Sache zu äußern, Behauptungen durch seriöse Belege zu untermauern und Bewertungen über die Persönlichkeit und dem Geisteszustand der anderen Gesprächsteilnehmer zu unterlassen.
Ganz oft erkennt man schon im ersten Satz eines Beitrags oder eines dazugehörigen Kommentar, dass jedes weitere Wort überflüßig und sinnlos ist. Dann gilt es den inneren Drang zu kommentieren zu überwinden, notfalls kann man sich selbst die Hände auf den Schreibtisch tackern. Oder man klebt sich einen Zettel in Sichtweite mit folgendem Text eines unbekannten klugen Menschen an die Wand:
Bevor du mit jemandem streitest, frage dich: „Ist diese Person geistig reif genug, das Konzept der anderen Perspektive zu begreifen?“ Wenn nicht, lass’ es einfach bleiben.
In diesem Sinne gibt es durchaus gute Strategien zur Vermeidung von virtuellen Steinigungen. Niemand hat es „verdient“ öffentlich zur Sau gemacht zu werden. Niemand freut sich darüber, wenn ihm „alles Gute“ gewünscht wird und gleichzeitig die Wirkung des Karmas heraufbeschworen wird.
Vielleicht ist es ja auch mal einen Gedanken wert, sich zu überlegen, warum wir eine unbedachte oder unglückliche Formulierung so gerne zum Anlass nehmen, uns über andere Menschen zu stellen, ihnen ihre geistige Gesundheit abzusprechen und sie aus dem Schutz der Anonymität heraus tief verletzen.
Denn möglicherweise liegen die Defizite der Konfliktfähigkeit untereinander bei jedem Einzelnen selbst. Aber das ist nur so ein Gedanke…..
Text: A. Müller