Kaum sinken hierzulande die Infektionszahlen, füllen sich die öffentlichen Plätze. Dicht an dicht sitzen die Menschen beieinander und genießen Sommer, Sonne und Frischluft.
Klar, der Winter währte in diesem Jahr länger als sonst, auch das Frühjahr war nass und kühl. Verständlicherweise zieht es nun die Menschen hinaus ins Freie.
Es ist ja nicht nur des Wetters wegen, nein, es ist der Hunger nach Gesellschaft und nach der so lang vermissten Unbeschwertheit, der die Leute in Scharen zusammen kommen läßt. Wer kann es ihnen verdenken? Wir Menschen brauchen einander, wir sind eben Rudeltiere. Ohne die vielfältigen Impulse von unseren Mitmenschen verkümmert unser Geist. Nicht jeder ist dafür geschaffen in sozialer Isolation zu leben.
Nun ist es zum Glück wieder erlaubt, Feste zu feiern, ins Ausland zu reisen oder in Stadien zu sitzen. Man kann sich wieder irgendwo treffen, beieinander sitzen und die gegenseitige Gesellschaft geniessen.
Nur: ist alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, auch sinnvoll?
Im Moment sind viele Reglementierungen außer Kraft gesetzt, weil sich die Infektionslage hierzulande entspannt hat. Das ist einerseits eine feine Sache, darf jedoch andererseits nicht zu Übermut oder Sorglosigkeit führen. Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Wird es vielleicht auch nie sein. Wohin der Weg mit dem Coronavirus führen wird, weiß niemand so genau.
Es wird jedoch zu befürchten sein, dass trotz Impfungen und Tests die Zahl der Erkrankungen spätestens nach den Sommerferien wieder steigen wird und neue Varianten des Virus entstehen werden. Um diese Prognose zu erstellen, muss man kein Virologe sein. Ein kurzer Blick in den vergangenen Sommer und Herbst reicht vollkommen aus, um eine Ahnung für die Zukunft zu bekommen.
Angesichts der laufenden Europameisterschaft im Fußball, kann man sogar sehr schnell die Gefahren von Massenveranstaltungen erkennen. Stadien, gefüllt mit 40.000 Leuten oder Kneipen, mit feiernden Fußballfans sind aus Sicht des Virus willkommene Orte zur Vervielfältigung. So sind es nachweislich ca. 400 Fans, die beim Spiel Schottland – England im Stadion das Virus weitergetragen haben, ebenso wird von unzähligen Finnen berichtet, die nach ihrer Heimkehr positiv getestet wurden. Zuerst liegen sich die Leute im Freudentaumel in den Armen, später dann allein und schlimmstenfalls beatmet im Intensivbett. Und wieder muss man sich fragen: ist alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, auch sinnvoll?
Gerade bei dieser Veranstaltung kommen dann noch ganz andere unschöne Aspekte dazu, sich die Sinnfrage immer wieder zu stellen: möchte ich Rassismus und Homophobie unterstützen? Möchte ich eine Vereinigung unterstützen, die auf die Gesundheit von Menschen geradezu scheißt? In Zeiten einer weltweit ernstzunehmenden Krankheit auf die Öffnung von Stadien zu pochen, sie sogar unter Drohungen durchzusetzen, ist durchaus eine Überlegung wert.
Nach eineinhalb Jahren mit Corona ist die Sehnsucht nach Sorglosigkeit im Umgang miteinander absolut verständlich. Es hat sich jedoch auch gezeigt, dass nicht jeder mit dieser Art von Einschränkung zurecht kommt. Wer auf sich selbst zurück geworfen ist, sieht oft auch Dinge, die Angst machen, die zu groß und zu mächtig erscheinen. Wer es bisher gewohnt war, diese Lücken mit äußeren Aktivitäten, wie Einkaufen, Reisen oder Feiern zu füllen, wurde quasi seiner selbst beraubt. Sobald dann Lockerungen möglich sind, greift der/diejenige sofort nach dem rettenden Strohhalm. Endlich wieder Freiheit! Endlich wieder Ablenkung!
Die Mobilität der Menschen nimmt wieder zu. Wer sich regelmäßig testet oder gar geimpft ist, wähnt sich in Sicherheit. Manche Zeitgenossen gehen sogar so weit, sich weder zu testen oder den Termin ihrer Zweitimpfung wahrzunehmen. Weil es jetzt ja nicht mehr so drängend ist.
Vielleicht sitzt im Urlaubsflieger genau so jemand neben dir?
In den letzten eineinhalb Jahren hat sich der Staat massiv in unser Leben gemischt. Es wurden Regeln aufgestellt, es wurde verordnet und verboten. Manches war richtig, manches auch falsch. In dieser Zeit hat sich jedoch auch eine Art Gewöhnungseffekt eingeschlichen: man musste nur in die aktuellen Richtlinien und Verordnungen schauen und wußte sofort, was erlaubt und was verboten war. Jetzt sinken die Infektionszahlen und gleichzeitig steigt damit die Eigenverantwortung.
Können wir, jeder für sich und alle zusammen als Gesellschaft, damit umgehen? Stürmen wir jetzt los, um vermeintlich verpasstes aufzuholen, oder bleiben wir vorsichtig?
Eine Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss. Spätestens im Herbst sehen wir das Resultat unseres Handelns.
Bleibt gesund und bleibt vor allem zuversichtlich!
Text: A. Müller