„Überlasse das Denken den Pferden. Die haben einen größeren Kopf als du!“

Wie oft habe ich diesen Satz während meiner Kindheit gehört. Er wurde immer dann ausgesprochen, wenn ich nachhakte, etwas ganz genau wissen wollte, eine Sache wirklich verstehen wollte. Ein Satz, der als finales Zeichen gedacht war und doch das Gegenteil bewirkte. Nun wollte ich es erst recht wissen.

Ich muss ein sehr anstrengendes Kind gewesen sein. Eines, das neugierig die Welt um sich herum betrachtete, Sachen ausprobierte „die man nicht tut“ und schon während der unausweichlichen Gardinenpredigt wissen wollte, warum genau „man“ etwas nicht tun soll. Überhaupt: wer ist „man“?

Das Denken hörte einfach nicht auf, es war allgegenwärtig und ziemlich aufdringlich. Ich stellte mir vor, wie mein Kopf langsam immer größer werden würde, wie all die vielen Gedanken ihn aufblähten und am Ende vielleicht platzen lassen würden. So eine Sauerei! Sämtliche Ideen und Gedankenfetzen wären dann im Zimmer verteilt und klebten an Möbeln und Wänden. In meiner kindlichen Vorstellung konnte ich manche Gedanken in langen öligen Fäden die Wände herabrinnen sehen. Gedanken, die so klebrig sind, dass man sie jahrelang nicht loswerden kann, solche, die einen schaudern und zittern ließen. Jetzt, da sie an den Wänden hafteten, waren sie nicht mehr beängstigend oder drückend. Der Kopf hatte sich ihrer entledigt, welch eine Befreiung!

Jetzt verstand ich auch das Lied, dass wir um diese Zeit im Flötenunterricht einübten: „Die Gedanken sind frei“

Ich fühlte mich verstanden, da draußen in der Welt musste es also noch andere Menschen geben, denen ab und zu der Schädel platzte. Vielleicht war es ja gut, wenn alle jemals gedachten Gedanken, mal als großflächige Idee, mal als feiner Sprühnebel in die Welt gebracht wurden. Vielleicht würden sich zwei Ideenenden finden und miteinander verbinden. Was für großartige Gedanken könnte so entstehen! 

So entlastend und mutmachend die Vorstellung frei verstreuter Gedanken auch war, eine kleine giftstachelige Idee setzte sich in den nunmehr freien Kopf: wenn alle Gedanken frei sind, dann sind die geheimen Gedanken nicht mehr geheim. Böse Gedanken könnte so in alle Welt gelangen. Jeder würde sehen und lesen können, was sich der jeweilige Kopf gerade gedacht hat. Ob es deswegen so viel Streit gab? Ein bisschen schämte ich mich für meine eigenen geheimen und manchmal bösen Gedanken und hoffte, sie würden von niemandem gelesen werden können. Vielleicht, wenn ich älter wäre, so hoffte ich, könnte ich mir eine Art Geheimfach für geheime Gedanken anlegen. Einen Safe im Kopf, der vor Sprengungen gedanklicher Art geschützt ist und nur von mir geöffnet werden kann. Darüber musste ich unbedingt in Ruhe nachdenken.

„Wer zu viel denkt, bekommt ein häßliches Gesicht.“

Eine wirklich ernstzunehmende Warnung, die hin und wieder von erfahrenen Erwachsenen ausgesprochen wurde. Ich konnte schon die Vorgabe, ein adrettes, sauberes Mädchen zu sein, nicht erfüllen. Daher strengte ich mich sehr an, nicht auch noch hässlich zu werden. Dreckig, mit zerrissenen Hosen und zerzaustem Haar; das waren meine Eltern von mir gewohnt und sie hatten sich damit arrangiert. Den Dreck konnte man abwaschen, die Haare kämmen und die Hosen flicken. Hässlichkeit jedoch würde bestehen, wäre für alle sichtbar. Ich liebte meine Eltern sehr und wollte ihnen die Bürde eines hässlichen Kindes von Herzen ersparen. 

Also versuchte ich an manchen Tagen einfach mal nichts zu denken. Ich setzte mich auf’s Bett im Schneidersitz und schloss die Augen und setzte all meine Hoffnungen in die Gedankenlosigkeit. Es dauerte ewig, bis sich der Kopf leerte. Manchmal schlief ich darüber sogar ein. Wenn es mir jedoch gelang, den leichten Zustand des Nichtdenkens zu erreichen, dann war das ein wenig so, als ob ich im Schneidersitz fliegen würde. 

Hat jemand von euch schon mal probiert in einem Stockbett zu fliegen? Genau das war mein Problem. Ich kam nie weit, weil mir meist kurz nach dem Erreichen des Nichtdenkens und der geistigen Schwerelosigkeit ein paar Ideen kamen. Es war wie verhext: egal was ich machte, immer kamen diese Gedanken dazwischen und ich war ihnen machtlos ausgeliefert.

Anscheinend war ich dazu verdammt, ein hässliches Dasein zu fristen. Um den Prozess der äußeren Entstellung wenigstens dokumentieren zu können, wünschte ich mir zu Weihnachten einen Schminkspiegel. Meine ältere Schwester hatte schon so ein Exemplar, das sie hütete wie einen Schatz. Wie oft gab es deswegen zwischen uns großen Streit. Nun konnte ich das endlich verstehen: auch sie war verdammt zum Denken! Auch sie fürchtete um ihr Äußeres! Wir malten uns dicke schwarze Ränder mit Kajal um die Augen, um eventuelle Anzeichen der beginnenden Hässlichkeit zu überdecken. So leicht würden wir uns nicht geschlagen geben! So leicht nicht!

Ich saß also da, starrte in die Luft und überlegte, ob eigentlich alle hässlichen Menschen automatisch klug wären. Und ob alle schönen Menschen anstelle des Denkens andere Hobbys hätten. Mein Bekanntenkreis zu jener Zeit war noch sehr überschaubar und es wollte mir absolut niemand einfallen, der ausgesprochen hässlich gewesen wäre. 

Im Grunde waren alle Menschen in meinem Leben schöne Menschen. Vor allem waren sie liebenswerte, verlässliche und anständige Menschen. Leute, die mit beiden Beinen im Leben standen, die fleißig für ein gutes Leben arbeiteten. Das brachte mich in ein ziemliches Dilemma. Ich musste mich fragen, wer eigentlich festlegt, was Schön und was Hässlich ist. Außerdem musste ich gründlich darüber nachdenken, ob es wirklich einen Zusammenhang zwischen Klugheit und Schönheit gibt. Wenn dieser Satz mit den großen Köpfen der Pferde zum Beispiel stimmte, würde er doch dem mit der Hässlichkeit widersprechen. Pferde sind nämlich wunderschöne UND kluge Lebewesen. 

Vielleicht waren die Menschen die ich kannte und liebte, Menschen, die es nicht gewohnt waren, sich die Zeit mit Nachdenken zu vertreiben. Sie machten viel im Stillen mit sich aus, sprachen wenig und handelten ehrlich. Das war eine Art von Klugheit, die ich erst noch lernen musste.

Inzwischen sind einige Jahrzehnte des Denkens vergangen. Manche Gedanken haben sich zur guten Idee entwickelt, manche waren einfach nur Rülpser in einem ständig blubberndem Gehirn. Sobald sie in die Freiheit entlassen wurden, entpuppten sie sich als heiße Luft und verschwanden so schnell wie sie gekommen waren.

Manche Gedanken wurden sofort nach ihrem Auftauchen in den Safe im Kopf eingesperrt. Dort bleiben sie bis in alle Ewigkeit sicher verwahrt.

So viele Gedanken, so viele Ideen.

In all den Jahren ist mein Kopf weder zu bedenklicher Größe angeschwollen, noch bin ich durch die Denkerei auffallend hässlich geworden. Ich habe meinen Bekanntenkreis inzwischen erweitert und erkannt, dass die Freude am Denken sehr wohl etwas mit Ausstrahlung zu tun hat.

Dabei ist es vollkommen egal, ob jemand groß oder klein, dick oder dünn, pickelig oder reinhäutig ist. Entscheidend ist der Spaß am Denken, die Lust, sich neuen Ideen hinzugeben und zu träumen.

Die eine malt Bilder, der andere macht Musik, der dritte gärtnert… die Reihe ist endlos fortzusetzen. 

All diese Leute sitzen wie ich dereinst als Kind auf ihrem inneren Stockbett und schaffen es für ein paar kleine Momente zu fliegen. Ein kurzer Ausflug in die Gedankenlosigkeit erfrischt und läßt einen mit leuchtenden Augen und neuen Idee zurückkehren. 

Wenn ihr also das nächste Mal in der Stadt oder sonst wo unterwegs seid, schaut mal nach Menschen mit leuchtenden Augen. 

Es könnten, wie ihr selbst, Denker sein.

Text: A. Müller