In unserer Gesellschaft wird viel über Werte und die Angst vor dem Verlust derselben gesprochen. Hört man genauer hin, bekommt man den Eindruck, dass unsere westlichen Werte viel besser seien als die fremder Kulturen. Ebenso hört man heraus, wie bedroht unsere Weltanschauung durch die der „Anderen“ sei. 

Eine Gesellschaft stützt sich immer auf Erfahrungen und Traditionen; daran ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Damit sich kommende Generationen ebenso darauf stützen können, ist es jedoch unumgänglich, diese Werte immer wieder neu zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern.

Was sind also unsere Werte wert? Handelt die westliche Welt überhaupt nach ihren eigenen Wertvorstellungen oder sind diese zu hohlen Phrasen geworden, die wir bestenfalls als Schutzschild gegen mögliche Veränderungen vor uns hertragen?

Klar ist: unsere Werte gelten zunächst einmal für uns! Sie haben sich in Jahrhunderten entwickelt und sind von religiösen Vorgaben und den unterschiedlichsten Staatsformen der europäischen Geschichte getragen. Aber schon zu Zeiten der Kreuzzüge handelten die Mächtigen von Staat und Kirche nur dann nach diesen Vorgaben, wenn sie ihnen passend erschienen. „Du sollst nicht töten!“ galt demnach nur für Menschen des eigenen Glaubens. Andersgläubige durften gerne und viel umgebracht werden. 

Auch in heutigen Zeiten hat sich in dieser Hinsicht nicht viel verändert. Der Westen entscheidet, wer gut und wer böse ist. Dabei geht es heutzutage weniger um Religion, sondern mehr um wirtschaftliche Interessen. Man hilft den Ländern, die einem Nutzen bringen. Die anderen scheren die westliche Staatengemeinschaft nicht. 

Der Westen, hier als Synonym für all jene Staaten, die anderen Ländern „Hilfe“ zukommen lassen und sich im immer trüber werdenden Licht ihrer wirtschaftlichen Leistung sonnen, zeigt sich gerne im Mantel des Helfers in der Not. Dass er, der Westen, diese Not in vergangenen Zeiten selbst verursacht hat, wird natürlich unter den Tisch gekehrt. 

Unzählige Länder auf dem afrikanischen und amerikanischen Kontinent wurden durch Entdecker für ihre jeweiligen Regierungen eingenommen, die dort lebenden Menschen entweder gleich umgebracht oder als Sklaven missbraucht. Nach den Werten der damaligen westlichen Gesellschaft war dieses Handeln durchaus statthaft; schließlich tötete man ja keine Christen, sondern Heiden, Barbaren, Ungläubige.

Seit diesen Zeiten hat sich viel verändert. 

Wirklich?

Schaut man sich die einst okkupierten Länder an, so dauern die negativen Folgen des Überstülpens unserer Werte immer noch an. Man stahl nicht nur die Identität, die Traditionen und die Religionen der unterschiedlichsten Volksgruppen, sondern man tat so, als ob man im Besitz aller Weisheit der Welt sei. Alles hatte nach westlichen Regeln zu funktionieren, wir waren und sind die Durchblicker, die Besserwisser, die, die alles im Griff haben. Die herausragenden Denkleistungen der jeweiligen Kulturen wurden einfach vom Tisch gefegt. Durch diese arrogante Haltung ist viel Wissen und viel Weisheit verloren gegangen. 

Noch heute ist es so, dass es niemand interessiert, wie andere Kulturen ticken. Wenn der Westen finanzielle Hilfe leistet, bestimmt auch der Westen, wie sich die Hilfsempfänger zukünftig zu verhalten haben. Oder er schickt Gelder irgendwohin und kümmert sich nicht darum, ob diese auch wirklich bei den Menschen ankommen. 

Manchmal schickt der Westen auch Waffen in andere Länder. Das ist ziemlich clever, denn dann muss der Westen nicht selbst töten. Durch seine Waffenlieferungen profitiert er nämlich doppelt: zum einen verdient sich der Lieferant eine goldene Nase und zum anderen schwächt er ein Land von innen heraus. Wenn dann die Dinge aus dem Ruder laufen, zuckt man eben bedauernd die Schulter. Hat ja keiner ahnen können, wird dann gesagt. Konnte ja niemand voraussehen, dass es so schnell so brandgefährlich wird. Mit großen Augen glotzen die Verantwortlichen dann in Fernsehkameras und glauben sich selbst ihre verlogenen Worte. 

Westliche Werte? Da war doch was…

In der großen Politik und oft genug auch im Leben des Einzelnen haben Fingerspitzengefühl für die Weltanschauungen und Kulturen anderer Länder keinen Platz.

Selbst im eigenen Land nehmen wir unsere Werte nur dann ernst, wenn sie uns zu nutzen scheinen. Im Wahlkampf zum Beispiel. Was da nicht alles versprochen wird: mehr Wohnraum, besserer öffentlicher Nahverkehr, Umweltschutz, Gleichbehandlung der Geschlechter, Bildung für alle. Ist der Wahlkampf dann vorbei, werden all diese Themen wieder in die unterste Schublade zu den Staubmäusen der letzten 50 Jahre gelegt und müssen dort bis zum nächsten Wahlkampf bleiben. Vielleicht ist das so, weil Veränderungen auch immer das Risiko des Scheiterns in sich tragen. Und weil niemand gerne scheitert, lässt man eben alles so wie es ist. Gerade beim Thema Umwelt- und Klimaschutz kann man dieses Phänomen gut beobachten. Es gäbe vielfältige Möglichkeiten, im Kleinen wie im Großen, Dinge zu verändern, aber wir tun es einfach nicht. Wir beharren auf PS starke Fahrzeuge, auf die jährliche Fernreise, auf das dicke Steak auf dem Teller. Wir wollen zu jeder Jahreszeit (exotisches) Obst und Gemüse, überkaufen uns im Supermarkt und werfen die Hälfte der Lebensmittel weg. Mehr! Mehr! Mehr! Die Bedürfnisse werden künstlich hochgehalten, nie sind wir zufrieden. Wir hamstern Nudeln, Mehl und Klopapier, es ist uns scheißegal, ob unser Nachbar auch etwas von diesen Gütern abbekommt. Ich! Ich! Ich! 

Gleichzeitig verurteilen wir Menschen, die aus Krisen- und Kriegsgebieten flüchten. Wir wollen auf gar keinen Fall unseren Reichtum mit anderen teilen. Wo kämen wir denn da hin?

Westliche Werte? Fehlanzeige.

Wir tragen unsere Werte immer noch wie ein Schutzschild vor uns her und drehen uns die Dinge lediglich so hin, wie wir sie gerade brauchen. 

Seien wir doch ehrlich: unser einziger wirklicher Wert, auf den wir zählen, ist das Geld. Wer Geld hat, hat das Sagen. Wir lügen uns mit Begriffen wie Empathie, Gleichheit der Geschlechter, Fürsorge, Wertschätzung und so weiter doch selbst in die Tasche. 

Jeder in unserer westlich geprägten Welt definiert sich über seinen finanziellen Status. Wir streben einen materiellen Reichtum an, haben mehr Güter, als wir jemals (ver)brauchen können und verarmen dabei im Inneren. 

Das ist im Kleinen so wie im Großen: Die Staatengemeinschaft greift nur dann in Krisengebieten ein, wenn für sie wichtige Ressourcen in Gefahr sind. Es geht und ging nie um die Rettung von Menschen. 

Die Staatengemeinschaft unterstützt mal Regierungen, mal Rebellen. Es kommt eben drauf an, von welcher Seite sie sich etwas verspricht.

Betrachtet man das internationale Handeln aus der Werteperspektive, kommt man schnell zu dem Schluss: hier entscheidet ein ziemlich verbrecherischer und menschenverachtender Haufen von Opportunisten über Wohl und Wehe in der Welt. Mit Waffenverkäufen in die Krisengebiete will man den Frieden bringen? Mit einer fast nicht auszuhaltender Impertinenz erklärt man die Demokratie zum heilbringenden Staatsform, der sich die „Drittländer“ anzupassen haben. In ihrer Brechreiz erzeugenden Gönnerhaftigkeit erklären westliche Staaten den finanziell Schwachen die Welt und sprechen ihnen die Fähigkeit ab, sich mit ihren eigenen Werten und Traditionen gut um ihr Land zu kümmern. So verkommen westliche Werte zu modernem Kolonialismus und offenem Rassismus.

Westliche Werte sind eine gut gemeinte Idealvorstellung für das gemeinschaftliche Leben. Nur: wir sollten uns nicht nur mit Worten schmücken, sondern auch deren Sinn verstehen und danach handeln. Das geht nicht immer, aber es geht ziemlich oft.

Diese Werte verlangen von unserer westlichen Gesellschaft Verantwortung und Klarheit. Sie gelten für uns, aber eben NUR für uns! Andere Gesellschaften haben andere Werte. Wir, die gesamte westlich geprägte Welt, müssen endlich lernen, andere Werte zu akzeptieren und wir müssen dringend aufhören, unsere Ansichten anderen überstülpen zu wollen. 

Wenn wir Menschen, ganz egal woher wir stammen und welche Werte uns prägen, lernen, uns gegenseitig zu respektieren, hätten wir weniger Anlass, anderen unsere Sichtweisen aufzudrängen. Eine Annäherung an die Werte anderer Kulturen wäre dann nicht mehr ausgeschlossen.

Dann erkennen wir vielleicht auch, wie wenig unser Wertesystem von außen bedroht wird und können in Zukunft wesentlich entspannter im Zusammentreffen anderer Sichtweisen bleiben. 

Text: A. Müller