Die Moosmarie stammt aus einer sehr alten Familie. Ihre Ahnentafel reicht ungefähr 400 Millionen Jahre zurück. Das ist schon so lange her, dass sich Moosmarie selbst gar nicht mehr erinnern kann. Sie kennt allenfalls die Geschichten, die über die Generationen überliefert und weiter erzählt worden sind. Moosmarie zweifelt absolut nicht an der Wahrheit der Geschichten, denn das Gedächtnis der Pflanzen ist viel besser und genauer als es das der Menschen je sein könnte. Ein ganz normaler Baum, der irgendwo im Wald herumsteht zum Beispiel; so ein ganz normaler Baum kann auch noch nach 50 oder mehr Jahren sagen, ob der Sommer heiß und trocken oder der Winter warm und nass war. Dazu braucht er weder Zettel noch Stift. Das sollen ihm die Menschen erst mal nachmachen.
Genau so ist es auch bei den Moosen. Lange bevor es überhaupt anderes Leben auf der Erde gab, besiedelten die Verwandten der Moosmarie die Erde. Überall dort, wo sich ein Tröpfchen Wasser bildete, überall dort, wo winzige Moleküle von Stickstoff, Magnesium, Phosphor, Schwefel oder Kalium in der Luft umherschwirrten, ließen sie sich nieder und breiteten sich aus.
Ganz zu Beginn unserer Erde ist der Planet nämlich noch ein ziemlicher Sauhaufen gewesen. Die Atmosphäre giftig, der Regen sauer und nirgendwo ein gemütliches Plätzchen in Sicht. Aus diesem Grund haben sich die Vorfahren der Moosmarie überlegt, wie sie die Erde zu einem besseren Ort machen können.
Moosmaries Verwandtschaft ist enorm groß. Sie umfasst ungefähr 16.000 verschiedene Arten. Die alle unter einen Hut zu bekommen ist sicher nicht ganz einfach gewesen. Je mehr Mitglieder so eine Familie hat, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass mal einer was ganz anderes machen will. Ein paar Familienmitglieder haben sich dann im Laufe der Zeit zu „höheren“ Pflanzen entwickelt.
Es heißt ja oft, Moose seien „niedere“ Pflanzen, also nicht so hoch entwickelt wie z.B. Johannisbeersträucher. Allerdings wird in dieser Darstellung oft vergessen, dass ohne die Moose erst gar keine Johannisbeersträucher hätten wachsen können! Die Moosmarie darf gar nicht darüber nachdenken, sonst ärgert sie sich grün und blau.
Wären damals die Grünalgen nicht aus der Gezeitenzone der Urmeere an Land gekommen und hätten sie nicht in frickeliger Kleinarbeit den Planeten urbar gemacht, dann gäbe es nämlich gar keine Johannisbeersträucher oder ähnlich arrogante höhere Pflanzen. So sieht’s doch aus!
Die Moosmarie und ihre Verwandten sind vielleicht auf den ersten Blick klein und unscheinbar, aber wenn man sie einmal genauer betrachtet, erkennt man ihre wahre Größe.
Mit einer Geduld die ihresgleichen sucht haben sich die Moose über den ganzen Planeten verbreitet. Sie leben in den Tropen, in gemäßigten Zonen, im Wald, an Felsen, ja sogar manchmal direkt an Tieren. In jeder noch so kleinen Ritze, in Felsspalten und Höhleneingängen verankern sie sich und filtern die Luft. Sie sind dabei so genügsam wie kaum ein anderes Lebewesen auf der Erde. Ein bisschen Flüssigkeit, ein bisschen Licht genügt und schon fühlen sie sich wohl.
Man könnte meinen, wer sich so karg ernährt und auf so hartem Untergrund sein Leben fristet, der ist auch ein eher grantiger und übel gelaunter Zeitgenosse. Darüber kann die Moosmarie nur lachen! Schaut sie doch mal an, die Moose in Wald und Flur: samtig weiche Polster, frisch und rein duftend. Moose machen aus Hartem etwas Angenehmes und Lebenswertes. Die Moosmarie ist sehr froh zur Familie der Moose zu gehören. Nicht nur, das die ganze Familie gemeinsam dazu beigetragen hat, die miese Luft auf der noch jungen Erde zu reinigen, nein; bis heute wäre auf der Erde ohne Moos nichts los.
Moosmarie und ihre Verwandten sorgen nämlich dafür, dass jeder noch so kleine Wassertropfen in ihrer dichtem Moospelz gespeichert wird. Moosmarie ist zwar sehr klein, aber stärker als ein Elefant! Sie kann ungefähr das 300fache ihres eigenen Gewichts an Wasser speichern. Der Johannisbeerstrauch, das alte Klappergestell, kann das nicht. Im Gegenteil, der verdunstet das mühsam gesammelte Wasser innerhalb kurzer Zeit.
Würden Moosmarie und ihre Familie nicht so große Mengen Wasser speichern, dann gäbe es viele Überschwemmungen. Denn die Erde selbst könnte bei einem Regenguss gar nicht so viel Wasser aufnehmen. Sie würde sogar einfach vom Regen in die Flüsse geschwemmt und dann ins Meer gespült werden. Zurück bliebe kahler Fels und öde Landschaften.
Da würde der Johannisbeerstrauch aber blöd glotzen!
Je länger die Moosmarie nachdenkt, desto mehr Geschichten über ihre Verwandtschaft fallen ihr ein. Nicht nur, wie Moose die Luft reinigen oder kostbares Wasser speichern. Nein, sie hat mal von einer Moosart gehört, die verwundeten Menschen das Leben gerettet hat. Ja, wirklich! Es gibt eine Moosart, das Torfmoos, das die vielen Mineralien und Spurenelemente in seinem Pelz zu einer einzigartigen Komposition zusammengefügt hat: wenn man sich verletzt hat und die Wunde sich zu entzünden droht, so kann man ohne Sorge mit dem Torfmoos die Verletzung versorgen. Moosmaries Verwandter ist nämlich ein Spezialist für mikrobielle Wirkung. Früher, als es noch keine Apotheken gab, gingen die Menschen ins Moor und sammelten Torfmoos, wickelten es um die Wunde und schon bald war der Patient wieder gesund.
Ab und zu war ein Verletzter oder Kranker jedoch nicht mehr zu retten. Dann sammelten seine Familie und Freunde größere Mengen des weichen Moos’ und legten ihren Verstorbenen auf dieses samtige Totenbett. Moosmarie gefällt die Vorstellung. Sie selbst würde nicht zögern, jemandes letztes Bett zu sein und ihm zu helfen, den Kreislauf der Natur zu schließen.
Ja, die kleinen Moose leisten so viel und so großartige Arbeit. Gerade heutzutage sind sie wichtiger denn je. Ein paar schlaue Menschen haben herausgefunden, dass bestimmte Moosarten giftige Stoffe aus der Luft filtern können. Die Moose binden diese Stoffe und sorgen dafür, dass unzählige Menschen saubere Luft atmen können. Die Moosmarie wünscht sich für die Zukunft viele solcher schlauen Menschen. Gemeinsam mit ihnen könnte man vielleicht auch langfristig zusammenarbeiten. Wenn es da nicht die Johannisbeersträucher unter den Menschen gäbe: die, die arrogant über Mooswände an stark befahrenen Strassen lachen, die die jedes noch so kleine Büschel Moos aus ihrem Garten entfernen und die arrogant genug sind, Moose als niedere Pflanzen zu bezeichnen.
Moosmarie wünscht sich eine Zusammenarbeit mit den schlauen Menschen, damit es weiterhin überhaupt noch menschliches Leben auf der Erde geben kann. Denn die Menschen brauchen viel mehr Luft und Wasser als es alle Moose auf der ganzen Welt zusammen bräuchten.
Moosmarie wünscht sich, dass die Menschen das bald erkennen. Aber sie weiß auch, dass sie selbst und ihre Verwandtschaft nicht auf die Menschen angewiesen ist. Sie braucht nur ein wenig Feuchtigkeit und ein bisschen Licht. Ein paar Nährstoffe aus der Luft und einen Stein, wo sie sich verankern kann. Das allein genügt unserer Moosmarie.
Sie und ihre Familie waren von Anbeginn der Erde da und sie werden noch bleiben bis zum Ende des Universums.
Text: A. Müller