„Autsch! Pass doch auf, wo du hintrittst!“ rief Ronny, der Regenwurm. Mit einer Drehung nach rechts konnte er sich gerade noch in Sicherheit bringen. Um ein Haar wäre er von Rosalindes Vorderhuf zertrampelt worden. Rosalinde, das Reh hatte ihn einfach nicht gesehen. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit auf die saftigen Blätter eines Strauches gerichtet und nicht darauf geachtet, wo sie hintritt. „Tscholligom“ nuschelte sie mit vollem Mund, „wollte dir nicht weh tun, war keine Absicht.“

Ronny war es langsam leid. Ständig musste er sich vor den großen Tieren in Acht nehmen, ständig war er in Gefahr getreten zu werden. Nur, weil er so klein war. Alle anderen Tiere waren viel besser zu sehen, manche waren sogar so groß, dass man sie aus weiter Entfernung erkennen konnte. Rosalinde Reh zum Beispiel, oder Bärbel Bär. Die beiden waren so herrlich groß. Selbst in der Dämmerung konnte man sie wegen ihrer Körpergröße gut sehen. Sogar Hans Hase war für geübte Augen auch im hohen Gras gut sichtbar., weil er so lange Ohren hatte. Nur Ronny nicht. Ihn konnte man meist nur dann erkennen, wenn man ganz genau den Boden betrachtete. Ronny Regenwurm hatte es satt, immer der Kleinste zu sein.

„Aber wie stelle ich es an, damit mich die anderen Tiere nicht mehr übersehen?“ überlegte er. Am liebsten hätte er sich dabei am Kopf gekratzt, aber nicht einmal das konnte er. Er hatte ja keine Arme oder Beine, mit denen er sich hätte kratzen konnte. Je länger Ronny über sich selbst nachdachte, desto trauriger wurde er. Was war er nur für ein Loser! Klein, am Boden kriechend, ohne Arme und ohne Beine, ohne schöne langen Ohren. Nicht einmal hören konnte man ihn! War ja klar, dass ihn keiner beachtete. Wer wollte schon mit so einem Niemand etwas zu tun haben?

„Ich wünschte, ich wäre so groß wie ein…..“, überlegte Ronny. Es müsste schon ein eindrucksvolles Tier sein. Ein Starkes obendrein. Ach ja, und es müsste auch weithin zu hören sein. Es müsste ein Tier sein, dass für seine Empfindsamkeit und seine Klugheit bekannt ist. Es müsste ein Tier sein, dass jeder respektiert. Ronny überlegte und überlegte und grub sich dabei immer tiefer mit seinem Kopf in den Boden. Ein Eisbär vielleicht? Ein Löwe? Oder gar eine Giraffe? Nein, keines dieser Tiere wollte so richtig zu Ronny passen. Ronny schüttelte den Kopf. Dabei stieß er an etwas Langes. Es war biegsam und dennoch fest. Zuerst wollte Ronny sich um dieses Dings im Boden herum graben, doch dann blieb er mit seinem Kopf unglücklicherweise daran hängen. Er hatte einen kleinen Moment zu lange daran geschnüffelt und jetzt saß das Dings fest. Ronny konnte sich schütteln, hin und her drehen wie er wollte. Das Dings ging nicht mehr ab.

Mühsam kämpfte sich Ronny aus dem Boden heraus zum Tageslicht. Vielleicht fand er irgendwo eine Steinchen, um das Dings wieder abzustreifen. Obwohl…. ja, warum war er nicht gleich darauf gekommen? Das Dings war gar kein Dings! Das Dings war genau das, wonach er gesucht hatte. Das Dings war ein Elefantenrüssel und er, Ronny, war ab jetzt ein Elefant. Groß, mächtig, stark und eindrucksvoll. So, wie er es sich immer schon gewünscht hatte. Nun würde ihn niemand mehr übersehen!

Probeweise pustete er seine Atemluft in den Rüssel und traute seinen Ohren kaum: das war doch tatsächlich ein „Trööötöööt“ zu hören. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Ronny war tatsächlich ein Elefant.

Natürlich blieb das den anderen Tieren im Wald nicht verborgen. Wenn plötzlich ein Elefant erscheint, merkt man das. Ist doch klar, oder? Vorsichtig näherten sie sich. Sogar die Bienenkönigin verließ ihren Stock und bestaunte das Rüsseltier. Hans Hase hopste ganz aufgeregt um Ronny herum, Bärbel Bär brummte wohlwollend und Rosalinde Reh verneigte sich anmutig. So viel Aufmerksamkeit war Ronny gar nicht gewohnt. Noch nie hatten ihm die Tiere so viel Beachtung geschenkt. Es war viel besser, ein Elefant zu sein.

So vergingen die Wochen. Ronny war ein Elefant und ließ ab und zu ein „Trööötöööt“ aus seinem Rüssel ertönen, damit die anderen Tiere ihn nicht doch aus Versehen übersahen. Denn trotz des Rüssels war Ronny ja klein geblieben. Er war sozusagen der kleinste Elefant auf der Welt. Außerdem störte ihn der Rüssel zunehmend beim graben im Boden. „Hm“, machte Ronny nachdenklich, „hm, so habe ich mir das aber nicht vorgestellt.“ Elefant zu sein war doch nicht so einfach, wie es sich Ronny ausgemalt hatte.

Was war er denn nun wirklich? Regenwurm oder Elefant? Ronny fragte sich, woran es denn liegen könnte, dass er manchmal lieber Elefant statt Regenwurm sein wollte. An anderen Tagen vermisste er jedoch sein altes Leben als Regenwurm. Er schlängelte sich gedankenverloren durchs Gras und hoffte, eines der anderen Tiere zu treffen. Vielleicht würde sich seine Frage im gemeinsamen Gespräch klären lassen.

Er musste gar nicht weit schlängeln, bis er Bärbel Bär, Hans Hase und Rosalinde Reh traf. Sie saßen gemeinsam auf der Lichtung im Wald. Ronny musste allerdings zwei- dreimal hinschauen, sich die Augen reiben und noch einmal hinschauen, bis er seine Freunde erkannte. Sie sahen allesamt so anders aus.

„Hey Ronny, altes Rüsseltier!“ rief Hans Hase und winkte Ronny einladend zu. „Du kommst gerade wie gerufen.“ Ronny schlängelte sich näher an die Gruppe. „Wie seht ihr denn alle aus?“, fragte er. Bärbel hatte sich einen hübschen Reif in den Kopfpelz gesteckt, daran baumelten zwei lange Fühler. „Ich wäre so gerne mal ein Käfer oder eine Ameise“, erklärte sie dem erstaunten Ronny. „Ja, und ich wollte schon immer mal ein lustiger Zirkusclown sein!“ rief Hans Hase. Jetzt erst bemerkte Ronny die rote Clownsnase in Hans’ Gesicht. „Ich wäre gerne mal ein farbenprächtiger Schmetterling“ säuselte Rosalinde und zeigte stolz ihre bunten Flügel. Ronny war ganz aus dem Häuschen. Er hatte ja keine Ahnung, dass die anderen Tiere auch manchmal gerne ihr Dasein tauschen wollten. Er hatte geglaubt, es ginge nur ihm alleine so. Trotzdem musste er zur Sicherheit noch einmal genauer nachfragen: „Ihr würdet manchmal auch lieber jemand anderes sein? Ich dachte immer, das geht nur mir so.“ Die anderen Tiere nicken. „Klar wollen wir auch ab und zu tauschen.“, antwortete Bärbel. „Schau, im Sommer, wenn es mir unter meinem Pelz zu heiß ist und ich keine Abkühlung finde, wäre ich total gerne ein kleiner Käfer oder eine Ameise. Da könnte ich mich an eine kühle Stelle verkriechen und müßte auch nicht ständig auf der Suche nach Wasser sein.“

„Genau“, fügte Rosalinde hinzu, „ich habe an manchen Tagen meine braunes Fell so satt. Dann möchte ich ein bunter Schmetterling sein und in allen Regenbogenfarben leuchten.“ Ronny begann zu verstehen. „Aber meistens bin ich zufrieden mit meiner Fellfarbe“, erklärte Rosalinde, „denn sie ist die perfekte Tarnung für mich. Wenn ich nicht gesehen werden will, kann ich mich prima verstecken. Mit leuchtenden Farben geht das nicht.“

„Jetzt bin ich aber echt erleichtert!“ Ronny hatte nun begriffen. Es war also ganz normal, ab und zu mal jemand anderes sein zu wollen. Es war sogar ganz hilfreich, weil man dann viel besser merkte, was gut am eigenen Ich ist. Ronny hatte nämlich ziemlich schnell bemerkt, dass er als Elefant viel schlechter in seiner Regenwurmhöhle wohnen konnte. Außerdem behinderte ihn der lange Rüssel beim graben und fressen.

Aber es war trotzdem okay, ab und zu ein Elefant sein zu wollen.

Manchmal musste man sich einfach ein wenig größer, wichtiger, bunter oder lustiger machen, als man eigentlich ist. Dann konnte man später wieder viel zufriedener Regenwurm, Hase, Bär oder Reh sein.

Text: A. Müller

Illustration A. Klukas http://anja-klukas.de