Es gibt Zeiten, da bedarf es innerer Stärke und Mut, sich seiner Gedanken und seiner Vergangenheit zu stellen. Obendrein bedarf es auch einer gewissen Schnelligkeit, denn manche Gedanken sausen rasend schnell durch den Kopf und lassen sich kaum fassen. Sie sind fast nicht greifbar und bleiben als Gefühl, als vages Spüren im Hintergrund. Aber gerade dort, im Hintergrund, arbeiten sie unablässig weiter. Sie lassen uns nicht los und zwingen uns immer wieder, uns mit ihnen zu beschäftigen. 

Es gibt Zeiten, da erkennt man die Vielschichtigkeit der Wahrheit. Es gibt nicht nur die Eine, die Unumstößliche. Im Gegenteil, jeder erlebt seine ganz eigene, private Wahrheit. Jeder wird durch sie geprägt, packt dieses Erfahrungen in seinen Lebensrucksack und handelt, meist unterbewußt, danach. 

Es gibt Zeiten, da erleidet man Verletzungen.

Es gibt Zeiten, da schlägt man Wunden.

Das ist das Leben.

Wenn ein Leben endet, kommen die Zeiten der Erinnerung, der Reflektion, der Suche nach der anderen Wahrheit, des Festhaltens flüchtiger Gedanken.

Oftmals muss man seinen ganzen Mut zusammenkratzen, um all dem standzuhalten. Die Furcht vor Vergangenem kann bisweilen ziemlich groß sein. Erinnerungsfetzen kommen an die Oberfläche, längst Vergessenes will plötzlich wieder angeschaut werden. Erinnerungen, in die man sich wie in einen wärmenden Mantel hüllen kann und Erinnerungen, die das Grauen aus fernen Tagen wieder zum Vorschein bringen.

Das Herz droht manchmal aus dem Brustkorb zu springen, so intensiv erlebt man jene Gefühle von damals wieder. Schon längst erwachsen, ist man wieder Kind. Versorgt, gefüttert, sauber gebadet. Ermutigt, gelobt, aber auch gescholten und bestraft. Gerüche aus Kindertagen kommen an die Oberfläche. Oft gesagte Sätze dringen wieder ins Ohr. Stimmungen und unverständliche Wahrnehmungen drängen aus dem Dunkel ins Licht.

Doch anders als in Kindertagen, hat man jetzt die Chance, all jene Erinnerungen zu reflektieren. Man ist nicht mehr einer Situation ausgeliefert, die man nicht versteht, sondern kann sich jetzt die notwendige Zeit und die Ruhe nehmen, alles von jeder Seite zu betrachten.

Das was lange im Hintergrund arbeitete, kann nun abgeschlossen werden. Das Gute darf mit ganzen Herzen betrauert werden. Das was nicht gut gelang darf verziehen werden.

In der Geste des Verzeihens liegt kein Großmut oder Eigennutz, sondern die Bereitschaft zum Frieden über die verschiedenen Sphären hinweg. 

Die Vergangenheit darf nun ruhen. 

Sie war prägend, aufregend, bisweilen stürmisch. Langweilig war sie jedoch nie.

Es gibt Zeiten, da bedarf es einiger Anstrengung, sich mit dem Inneren und dem Äußeren auseinanderzusetzen. 

Es gibt Zeiten, in denen diese Auseinandersetzung zur Kraftquelle wird.

Es gibt Zeiten, die bei näherer Betrachtung Chance sein können.

Auch das ist das Leben.

Text: A. Müller