Das kleine Ich ist heute ziemlich wütend! Ringsherum sind so viele andere Ichs, die es anscheinend gar nicht interessiert, was das kleine Ich möchte. Es sind nämlich schon sehr große Ichs; viel größer als das kleine Ich. Laut sind sie, die Großen. Sie poltern und stampfen, sie schreien und kreischen. Da wird es dem kleinen Ich manchmal richtig Angst und Bange.

Ständig sagen die Großen dem kleinen Ich, was es tun und lassen soll.Sie sagen dem kleinen Ich sogar, was es schon kann und was es noch nicht kann. „Die haben doch gar keine Ahnung!“ schimpft das kleine Ich in sich hinein. „Nur weil die schon so groß sind, tun sie so wichtig. Außerdem treffen die Großen immer nur solche Entscheidungen, die für sie selbst richtig sind. Die kümmern sich überhaupt nicht um meine Bedürfnisse.“ Das kleine Ich sitzt schmollend in seiner Ecke. Tausendundeins Dinge fallen ihm ein, warum die großen Ichs so gemein sind. Manchmal kommt so ein großes Ich ins Zimmer und sagt, es wäre jetzt Schlafenszeit und dass das kleine Ich jetzt die Zähne putzen soll. Dabei ist das kleine Ich doch noch glockenwach oder muss dringend noch etwas zu Ende spielen. Wie kann es da ins Bett gehen? Also wirklich! Keine Ahnung haben die Großen! Keine Ahnung!

An einem anderen Tag kommt dann irgendein großes Ich daher und erklärt, man dürfe nichts unerledigt herum liegen lassen und man solle seine Dinge stets zu Ende bringen. „Meine Güte!“, das kleine Ich rollt genervt mit den Augen, „meine Güte! Hören die sich eigentlich selbst zu wenn sie reden?“ Schließlich legen die großen Ichs auch nicht immer alles ordentlich zur Seite oder werden an einem einzigen Tag mit ihren Aufgaben fertig. Das kleine Ich hat nämlich schon sehr oft zugehört, wenn die Großen sich gegenseitig von „Bügelbergen“ erzählten oder sich beklagten, dass „das Projekt“ noch bestimmt 5 Monate dauern würde. 

Da brauchen sich die großen Ichs also gar nicht wundern, wenn das kleine Ich am Ende genau das macht, was es will. 

Das kleine Ich hat es ohnehin schon längst satt, so selten für sich selbst entscheiden zu dürfen. „Ich bin Ich!“ denkt es trotzig, „ich brauche die anderen gar nicht. Ich kann das alleine!“

Es schnappt sich ein Stück Zauberkreide und malt einen Kreis um sich herum. Einen ziemlich großen Kreis, damit das Ich wenn es einmal größer ist, auch genügend Platz darin hat. In diesen Kreis dürfen die anderen Ichs nur hinein, wenn es das kleine Ich erlaubt. Im Inneren des Kreises kann das kleine Ich tun und lassen, was ihm gefällt und niemand! niemand! niemand! darf es ihm verbieten! Das kleine Ich kichert glücklich. Endlich hat es seine Ruhe vor den Großen. Die werden Augen machen!

Dann fällt ihm ein, wie es wohl wäre, wenn die anderen Ichs auch so einen großen Kreis um sich herum hätten. Gäbe es dann immer noch genügend Platz für jedes einzelne Ich? Gäbe es dann vielleicht auch weniger Streit?

Das kleine Ich kratzt sich versunken an der Nase. Auf jeden Fall könnten sich die einzelnen Ichs in ihrem Kreis ziemlich sicher fühlen. Niemand dringt doch ungefragt in einen so privaten Bereich ein. Oder nicht?

Die Ichs müssten auch sonst viel mehr miteinander sprechen und ganz höflich fragen, ob ein Ich vielleicht doch bitte seinen Kreis etwas kleiner machen könnte, wenn ein anderes Ich ausnahmsweise mal mehr Platz benötigt. Am Geburtstag zum Beispiel. Bestimmt würde das andere Ich sich dann an diesem Tag etwas einschränken, um dem kleinen Ich eine Freude zu machen.

Diese Regelung müsste allerdings für alle Ichs gleich gelten. Die großen Ichs dürften nicht mehr ungefragt die Kreise der kleinen Ichs stören und umgekehrt. Nur in Notfällen wäre das erlaubt. Zum Beispiel, wenn sich ein kleines Ich unwissentlich in Gefahr begibt oder ein großes Ich am Sonntagmorgen viel zu lange schläft. In diesem Fall dürfte ein kleines Ich mit einem riesengroßen Hopser ins Bett des großen Ichs springen und „Aufstehen! Es ist schon hell draußen!“ rufen dürfen.

Je länger das kleine Ich überlegt, desto mehr merkt es, wie flexibel so ein Kreis aus Kreide sein müsste. Wie gut, dass das kleine Ich Zauberkreide verwendet hat. Die macht den Kreis nämlich dehnbar. Mit normaler Kreide oder Filzstiften kann man solche Kreise zwar auch malen, aber nur mit Zauberkreide können die Kreise wirken.

Das kleine Ich hat nämlich bemerkt, dass bei den Großen dieser magische Kreis ganz oft zu einem klitzekleinen Pünktchen schrumpft. Bevor der Kreis so klitzeklein wird, gibt es meist ein lautes Palaver, manchmal auch Geschrei unter den großen Ichs. Dann sitzen sie da, mit roten Köpfen und heißen Ohren und jeder sagt seine Meinung. 

Je nachdem wie klug die großen Ichs sind, kommen sie am Ende zu einem gemeinsamen Beschluss, von dem ein jedes Ich profitieren kann. 

Aus vielen einzelnen Ichs wird dann ein einziges großes Wir. Jedes einzelne Ich gibt ein Stück von seinem magischen Kreis ab und aus diesen vielen kleinen Teilen wird ein großer Kreis gebaut. Ein bunter Flickenteppich aus Ansichten, Gefühlen und Meinungen. Die Zauberkreide hält alles so lange zusammen, bis ein neues Wir entstehen soll. 

„Vielleicht sind die großen Ichs doch klüger als ich zunächst dachte.“ Das kleine Ich kommt aus dem Nachdenken gar nicht mehr heraus. „Sie bauen gemeinsam aus vielen Ichs ein Wir. Im Wir sind auch die kleinen und schwächeren Ichs geschützt.“ Das kleine Ich beginnt so langsam zu verstehen.

Es ist offensichtlich sehr sinnvoll, ab und zu über den Rand des eigenen Ichs hinauszuschauen und sich mit den anderen Ichs zu verständigen. Mit Hilfe der Zauberkreide können die Kreise um die vielen Ichs mal größer und mal kleiner gezeichnet werden. Gerade so, wie es eben im Moment notwendig ist.

„Ganz schön praktisch“, findet das kleine Ich. „Von jedem Ich ist ein kleines Stück in diesen Teppich gewebt und aus vielen kleinen Teilen entsteht etwas komplett Neues.“

Jetzt ist das kleine Ich überhaupt nicht mehr wütend. Es hat den Unterschied zwischen dem Ich und dem Wir verstanden. Manchmal ist es wichtig, für sich selbst einzutreten und eine dicke Linie aus Zauberkreide um sich herum zu malen. Genauso wichtig ist es allerdings auch, zu erkennen, wann der eigene Kreis kleiner werden muss, damit man sein Ich für die Gemeinschaft einsetzen kann. 

Aber am wichtigsten ist es, das Stück Zauberkreide zu finden. Sie liegt in jedem einzelnen Ich verborgen.

Text: A. Müller