Früher, also damals in Zeiten meiner Jugend, als ich noch voller Idealismus und gutem Willen war, früher also, stellte ich mir vor, die Welt zu einem friedlicheren Ort machen zu können. Nicht ich allein, versteht sich. Es war mir schon klar, dass es für die Lösung dieser Aufgabe Mitstreiter bräuchte. Leute, die ebenso wie ich daran glaubten, dass Aufrüstung, Atomwaffen, Streit, Nationalismus und Ausbeutung der falsche Weg in die Zukunft sind. Gemeinsam wollten wir friedlich die Grenzen unterschiedlicher Religionen, Hautfarben und Herkünften entfernen. Es sollte nie wieder eine Rolle spielen, woher jemand kam, wie er aussah oder sprach. 

„We are the world, we are the people“ sangen wir, und wir meinten es ernst. 

Menschlichkeit, so war unsere Definition, muss alle Menschen auf der Welt einschließen, nicht nur diejenigen, die aus unserem Kulturkreis stammten. Wir verbanden den Begriff mit positiven Eigenschaften des menschlichen Handelns, mit Fürsorge, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. 

Wir wollten es besser machen als die Altvorderen. Keiner sollte mehr in die Abgründe der gemeinschaftlichen Hölle hinabfahren, keiner sollte mehr in den tödlichen Strudel von Hetze und Widerwärtigkeit gesogen werden. Keiner sollte mehr von Lügen geblendet und zu schrecklichen Taten verleitet werden. Keiner!

So jedenfalls war der Plan.

Wir haben’s vergeigt, so könnte man meinen.

Wir glaubten daran, wenn es allen Menschen gut ginge, jeder zu essen hätte, ein gemütliches Zuhause und keine Zukunftssorgen, dann gäbe es auch weniger Grund sich untereinander zu streiten. In unserem guten Glauben und in unserer Vorstellung, in unserer grenzenlosen Naivität haben wir ein paar Sachen überhaupt nicht bedacht. Dabei hätten wir uns doch nur mal kurz an die eigene Nase fassen müssen.

Die Menschlichkeit, so wie wir sie definierten, war nämlich nur eine Seite einer Medaille. In unserem Enthusiasmus betrachteten wir nur die golden schimmernde Oberfläche, jene, die uns auf gewisse Weise blendete und uns den Blick auf das ganze menschliche Wesen nahm. Wir schauten nur auf das Gold, welches uns eine bessere Welt versprach. Die andere Seite, die, die seit Jahrtausenden im Dreck gelegen hatte, die leise aber stetig vor sich hin korrodierte; diese Seite schauten wir nicht an. Es kam uns einfach nicht in den Sinn.

Hätten wir uns nur damals schon die Mühe gemacht nachzuschauen. 

Aber genau dieses Unvermögen, unangenehme Dinge ebenso anzuschauen und sie in der Bewertung des Ganzen mit einzubeziehen, ist einer der Fallstricke der Menschlichkeit. Wir schauen in unserer Euphorie nur die schönen Dinge, jene die uns vorteilhaft erscheinen an, und wundern uns am Ende, wenn der Plan nicht aufgeht.

Jeder von uns kennt so eine Situation aus der eigenen Lebensgeschichte. 

Im Laufe der Jahre verebbte das unbedingte Streben meiner Generation nach einer besseren Welt. Ich glaube, uns ist einfach der Alltag dazwischen gekommen. Klar, wir waren immer noch irgendwie um Ausgleich bemüht, allerdings ordneten wir diesen unseren eigenen Ansprüchen immer mehr unter.

Die Medaille der Menschlichkeit drehte sich unmerklich und immer wieder blitzte die korrodierte Seite auf. Jeder schaute zuerst mal nach sich selbst, machte Karriere, bekam Kinder, baute Häuser und an Weihnachten spendeten wir dann fünfzig Euro an irgendeine gemeinnützige Organisation. 

Und immer noch kam es uns nicht in den Sinn, dass wir einerseits zutiefst menschlich, als auch absolut unmenschlich handelten.

Unmenschlich, weil wir nach der Definition der Gemeinschaftlichkeit und Fürsorge, alle anderen nicht eines Blickes würdigten. WIR wollten es zu etwas bringen im Leben, WIR wollten finanzielle Unabhängigkeit und Wohlstand, WIR wollten „besser“ sein. Kollegen, Nachbarn, Verwandtschaft oder vollkommen Fremde gingen uns da im Zweifelsfall am Arsch vorbei.

Genau dieses Handeln und Denken ist eine Spielart der Menschlichkeit. Eben die andere Seite der Medaille. Dort wo sich Gier, Neid, Egoismus oder gar Mordlust tummeln. Die Seite, die sich nur mit purer Willenskraft im Zaum halten lässt. Die Seite, die überhaupt nicht schön ist.

Wenn wir also über die Menschlichkeit sprechen, müssen wir immer auch die menschlichen Schattenseiten sehen. Wir können, das habe ich in all den Jahren endlich begriffen, wir können nicht „gut“ sein, wenn wir das Böse in uns nicht sehen wollen. 

Es ist da und es lässt sich auch nicht wegdiskutieren.

Gehen dann Nationalismus, Ausbeutung, Krieg und Streit in Ordnung, weil sie ja Teil unserer Menschlichkeit sind? 

Darüber könnte man trefflich streiten und ich bin ziemlich gespannt, was ihr dazu zu sagen habt.

Ich für meinen Teil versuche, „meine“ dreckige Seite der Medaille nicht allzuoft zu zeigen, nicht nur meinen eigenen Vorteil, sondern den der Allgemeinheit im Blick zu haben. 

Das jedenfalls ist der Plan.

Hoffentlich vergeig’ ich’s nicht.

Text: A. Müller