Regnerisch ist es an diesem Samstagmorgen. Ein frischer Wind weht durch die Gassen der kleinen Stadt und treibt trockenes Laub vor sich her. Eigentlich würde Amelie an so einem Tag lieber noch eine Stunde im Bett bleiben und sich eines ihrer Bilderbücher anschauen, aber heute geht das nicht.
Heute ist nämlich ihr erster Schultag.
Der Schulranzen steht schon fertig bepackt neben ihrer Schultüte im Flur und Amelie kann es kaum erwarten, sich beides zu schnappen und endlich in die Schule zu gehen. Es fühlt sich gut an, kein Kindergartenkind mehr zu sein. Jetzt gehört sie auch zu den Großen! Amelie stellt sich vor, wie es ist, wenn sie bald selbst in ihren vielen Büchern lesen kann. Mama und Papa haben nämlich nicht immer Zeit zum vorlesen, manchmal dauert es ziemlich lange, bis einer der beiden seine Aufgaben erledigt hat und es sich mit ihrer Tochter auf dem Sofa bequem machen kann.
„Wenn ich selbst lesen kann, brauche ich nicht so lange zu warten,“ freut sich Amelie und hüpft aus ihrem Bett. „Aufstehen Leute, es ist erster Schultag!“ ruft sie in das noch stille Haus.
Bevor es jedoch losgehen kann, muss Amelie noch ein bisschen warten. Es dauert heute noch viel länger als sonst, bis alle in der Familie aufgestanden und bereit für diesen besonderen Tag sind. „Aufstehen, ihr lahmen Enten!“ ruft Amelie deshalb noch einmal und etwas lauter als zuvor. Endlich regt sich etwas. Mama und Papa reiben sich verschlafen die Augen und schälen sich langsam aus ihren Decken und auch Mara, Amelies jüngere Schwester schlägt endlich die Augen auf. Jetzt kann der Tag beginnen!
Eine Weile muss sich Amelie noch gedulden, aber dann sind alle aus der Familie geduscht und angezogen, Zöpfchen geflochten und Spängchen im Haar verteilt. Der erste Schultag ist schliesslich ein besonderer Tag und alle kleiden sich besonders feierlich. Jetzt noch schnell die Jacken angezogen und die Mützen aufgesetzt und es kann losgehen.
Gemeinsam macht sich die Familie zu Fuß auf den Weg. So kann Amelie schon mal ihren neuen Schulweg üben.
Die erste Station ist die Kirche. Dort treffen sich alle zu einem kurzen Gottesdienst. In der Kirche sitzen sehr viele Leute. Omas und Opas, Onkel und Tanten, Geschwisterkinder und Freunde; alle wollen die Schulanfänger an ihrem besonderen Tag begleiten. Es wird zusammen gesungen, gebetet und gelacht. am Ende verspricht der Pfarrer, dass die Kinder nie alleine sein werden. Es wird immer jemand da sein, der ihnen hilft. Dieser jemand sei Gott. Amelie ist sehr erleichtert, denn ein kleines bisschen macht ihr der neue Abschnitt in ihrem Leben auch Sorge. Aber wenn sogar Gott auf die Kinder aufpasst und ihnen hilft, dann kann ja eigentlich nichts schiefgehen. Sie schaut sich verstohlen in der Kirche um, aber sie kann Gott nirgendwo entdecken. Amelie würde gerne länger über Gott nachdenken, aber nun ist der Gottesdienst zu Ende und alle Familien gehen den kurzen Weg zum Schulgebäude.
In der Mensa sind viel Stühle für die neuen Schüler und ihre Familien aufgestellt, ein paar bunte Wimpel hängen von der Decke und heißen alle willkommen.
Jetzt wird Amelie doch ein bisschen mulmig zumute. So viele Menschen, so viele fremde Kinder. Und das Schulhaus ist so groß! Ob sie sich da überhaupt zurecht findet? Im Kindergarten war es doch etwas übersichtlicher und vertrauter. Dann fällt ihr die Sache mit Gott wieder ein und sie schnauft beruhigt aus. Wenn sie sich am Anfang noch fremd fühlt und nicht so gut auskennt, kann sie ja immer noch Gott fragen. Der kennt bestimmt den Weg.
Dann krächzt und kratzt es in den Lautsprechern und eine Frau begrüßt alle neuen Schülerinnen und Schüler. Das meiste was die Frau erzählt findet Amelie ziemlich langweilig und nachdem sie unauffällig nach links und rechts geschaut hat, merkt sie, dass die anderen Kinder der Frau auch nicht zuhören. „Na ja, wenn’s wirklich wichtig ist was sie sagt, wird sie es bestimmt noch einmal wiederholen,“ denkt sich Amelie. Erst als die Frau die Geschichte von Frau Hoppel, der Hasenlehrerin erzählt, hört Amelie wieder genauer hin. Frau Hoppel hat nämlich auch ihren ersten Schultag in einer neuen Schule. Aber sie fährt in die falsche Stadt und gerät anschließend unter ziemlich großen Zeitdruck, um rechtzeitig in der richtigen Schule anzukommen. Frau Hoppel scheint ohnehin eine ziemlich hektische und chaotische Lehrerin zu sein, denn am nächsten Morgen wacht sie viel zu spät auf, um noch halbwegs pünktlich zur Schule zu kommen. Deshalb radelt sie im Nachthemd los. „Meine Güte“, denkt Amelie und reibt sich verwundert die Stirn, „hoffentlich heißt meine Lehrerin nicht Frau Hoppel. Ich fürchte, so eine Hasenlehrerin kann uns Kindern nicht viel Neues beibringen.“
Am Ende ist sie dann sehr erleichtert, als sie ihre echte neue Lehrerin kennenlernt. Die Frau hat ein freundliches Lächeln und scheint sich in der Schule gut auszukennen. Die Lehrerin geht mit allen Kindern der Klasse in das Klassenzimmer. Dort werden die Sitzplätze verteilt, an denen die Schüler ab nun sitzen werden. Das Klassenzimmer gefällt Amelie sehr gut. Es ist hell und freundlich gestaltet, es gibt eine große Bücherkiste mit vielen Büchern, die sie noch nicht kennt und an der Wand hängt eine große grüne Tafel. Die Lehrerin schreibt „Herzlich willkommen“ auf die Tafel.
Dann dürfen die Kinder ihre Mäppchen aus dem Schulranzen holen und die Namensschilder, die die Lehrerin vorbereitet hat, ausmalen. Jedes Kind darf in bunten Farben seinen Namen malen. Amelie gibt sich große Mühe und malt ganz sauber und fein die Buchstaben nach. Sie wird nicht ganz fertig bis zum Ende der Schulstunde. Aber das liegt einfach daran, weil ihr Name so viele Buchstaben hat. Die Lehrerin verspricht, dass die Kinder am Montag an ihren Namen weiter arbeiten dürfen.
Die Lehrerin klatscht in die Hände und sagt, nun wäre der erste Schultag schon zu Ende. „Das ging ja flott!“ wundert sich Amelie. Aber am Montag, nach nur zweimal schlafen, darf sie ja wieder in die Schule.
Sie gehört jetzt nämlich zu den Großen!
Text: A. Müller