Im Dorf der Riesen wurde einst ein Kind geboren, dass einfach nicht groß wurde. Schon bei seiner Geburt war es sehr klein und ganz egal was seine Eltern mit ihm anstellten, das Kind erreichte nie mehr als die Größe einer Erbse.
Natürlich gefiel es dem kleinen Riesen nicht sehr, so klein zu sein. Ständig musste er darauf achten, von den Großen nicht zertreten oder fort genießt und gehustet zu werden. Sobald ein großer Riese sich nur räusperte oder seine Nase kräuselte nahm der kleine Riese reißaus. Nicht auszudenken, was passieren könnte, würde ihn der mächtige Windstoß eines Riesenniesers erfassen.
Meist versteckte sich der kleine Riese zwischen den Seiten eines Buches. Dort fühlte er sich sicher und beschützt, denn keinem der großen Riesen wäre es im Traum eingefallen, ein Buch zu treten oder anzuhusten. Im Dorf der Riesen galten Bücher als heilig. Nur ganz besonders schlaue Riesen konnten in ihnen lesen und aus dem Geschriebenen lernen. Der Rest der Riesen blieb ein Leben lang dumm wie Brot.
Es war gerade die Dummheit der Riesen, die dem Kleinen das Leben so schwer machte. Kaum hatten die Großen ihn erblickt, so riefen sie ihm Gemeinheiten hinterher. „Mickerling!“, „Kurzer!“, „Winzling!“, „Gnom!“, „seine Niedrigkeit!“ waren noch die erträglichsten Gemeinheiten, die der kleine Riese zu hören bekam. Obwohl er äußerlich klein geraten war, fühlte er sich dennoch wie ein echter Riese. Alles was er wollte war, ein gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Er wollte so sein wie alle anderen, er wollte einfach nur dazu gehören. So zog er an seinen Armen, zog an seinen Beinen und hoffte inständig wenigstens ein paar Zentimeter größer zu werden. Er streckte sich, kaufte sich Schuhe mit besonders hohen Absätzen und lief eine Zeitlang nur noch auf Zehenspitzen, um den Eindruck von Größe zu vermitteln.
Doch alle Bemühungen halfen nichts. Der kleine Riese blieb klein und die Großen lachten über ihn. Traurig verkroch sich der kleine Riese unter den Büchern und suchte Wärme und Trost in ihren Schriften.
So wurde er mit den Jahren immer schlauer. Einiges was er in den Büchern gelesen hatte, probierte der kleine Riese aus: so baute er sich eine winzige Gitarre und spielte darauf die schönsten Lieder. Das Notenlesen hatte er sich natürlich selbst mit viel Geduld beigebracht. Keiner der großen Riesen hatte eine Ahnung von Musik. Manche schlugen ab und zu auf Steine und probierten sich in rhythmischen Gesängen, aber richtige Musik konnte man das nicht nennen. Mit der Zeit wurde das Spieldes kleinen Riesen immer feiner und schöner, so schön, dass sogar die Schmetterlinge ihren Flug unterbrachen und der Musik lauschten. Bald darauf kamen auch die Ameisen und baten um Zugabe.
Die großen Riesen hatten jedoch keinen Sinn für die zarten Klänge der kleinen Gitarre. Sie lachten ein weiteres Mal über den kleinen Riesen und verspotteten ihn. Er solle doch endlich einmal Kraftübungen machen, damit er große Steine umher werfen kann. Nur Schwächlinge säßen unter Bäumen und würden mit noch Schwächeren wie den Schmetterlingen und Ameisen sanfte Liedchen trällern! Die Großen schnappten sich die Gitarre des kleinen Riesen und zerquetschten sie zwischen zwei Fingern. Echte Riesen spielten keine Gitarre, sondern… ja was eigentlich? Keiner der großen Riesen wußte darauf eine Antwort. Darauf kam es ihnen aber auch nicht an. Sie demonstrierten allein durch ihre Größe ihre Macht. Sie waren so groß und damit auch so stark und konnten daher all ihre Forderungen im weiten Land durchsetzen. Wer sich nicht fügte, wurde eben zertreten, zerquetscht oder verspottet. Leise Töne waren nicht die Sache der großen Riesen. Laut und dröhnend polterten sie umher und merkten gar nicht, wie viel sie dabei zerstörten.
Traurig stand der kleine Riese vor den Trümmern seiner Gitarre. Warum nur behandelten ihn die Großen so schlecht? Er war doch auch ein Riese. Ein kleiner zwar, aber immerhin. Wie konnten die Großen denn nur so gemein sein?
Er beschloss, die großen Riesen zu belauschen. Vielleicht würde er so herausfinden, warum sie ihn ausgrenzten. Leise schlich er sich in die Versammlungshalle der Riesen, klemmte sich unauffällig in eine Spalte in der Mauer und hörte ihnen zu. Viele Stunden lauschte der kleine Riese den Gesprächen der Großen und am Ende wußte er Bescheid: für die Großen war es ein Problem, dass er so klein war. Er passte nicht ins Bild. Er war ihnen zu „anders“. Sie hatten im Grunde nichts gegen Kleine, aber…..
Da wurde der kleine Riese zornig. Er hatte doch alles versucht, um groß und stark zu werden. Er hätte so gerne seinen Teil für die Riesengemeinschaft beigetragen, aber die Großen liessen es nicht zu. Weil er KLEIN war!
In seiner Traurigkeit fragte der kleine Riese die Ameisen um Rat. Sie waren ja auch klein und wüßten vielleicht eine Lösung.
Ja, sie seien auch ständiger Bedrohung ausgesetzt, erklärten die Ameisen. Sie hätten überdies auch schon längst die Nase gestrichen voll von den großen Riesen. Man könnte ihnen ja mal einen Denkzettel verpassen. Gemeinsam berieten der kleine Riese und die Ameisen die ganze Nacht und als die Sonne die ersten Strahlen über den Horizont schickte, hatten sie einen Plan geschmiedet.
Angeführt vom kleinen Riesen machte sich der gesamte Ameisenstaat auf den Weg ins Dorf der Riesen. Sie drangen in jedes Haus, durch jede noch so kleinste Ritze fanden sie Eingang. Sie belagerten die Vorräte, saßen auf Honigtöpfen, knabberten an Obst und Gemüse.
Die großen Riesen versuchten erschrocken die plötzliche Flut der Ameisen mit Besen und Schaufel abzuwehren, aber es waren einfach viel zu viele der kleinen Wesen. Mit bloßen Händen wischten die Riesen die Krabbeltiere von Tischen und Stühlen, zertraten sie mit ihren großen Füßen. Doch all ihre Anstrengungen halfen nichts. Die kleinen Ameisen waren in der Gemeinschaft viel stärker als es die großen Riesen jemals hätten sein können.
In ihrer Hilflosigkeit begannen die großen Riesen nun mit dem Einzigen, dass sie wirklich gut konnten: sie warfen mit Steinen. Sie warfen sie auf ihre eigenen Häuser und bewarfen sich am Ende auch noch gegenseitig. Die großen Riesen zerstörten immer noch ihr eigenes Dorf, da waren die Ameisen und der kleine Riese schon längst abgezogen.
Am nächsten Morgen standen die Riesen fassungslos vor den Ruinen ihres Dorfes. Sie kratzten sich am Kopf und am Allerwertesten und fragten sich, wie es soweit kommen konnte. Ein leises Flüstern liess sie aufhorchen. Es klang so: „Vielleicht ist es nicht schlecht, mit den Kleinen zu sprechen? Vielleicht sollten wir uns für die Gemeinheiten entschuldigen?“ Betreten schauten sie einander an und machten sich auf die Suche nach dem kleinen Riesen. Vielleicht würde er ihnen helfen, mit den Ameisen zu sprechen?
Der kleine Riese liess sich nicht zweimal bitten und organisierte ein Treffen zwischen groß und klein. Es wurden zähe Verhandlungen, aber am Ende war man sich einig: keine Beleidigungen mehr, nur weil jemand körperlich anders ist! Keine Zerstörung mehr, nur weil eine Gruppe zahlenmäßig überlegen ist. Und ganz wichtig: es werden in Zukunft keine Musikinstrumente mehr zerstört! Nur weil man mit etwas nichts anfangen kann, darf man es nicht einfach so kaputt machen.
Langsam kehrte im Dorf der Riesen wieder Ruhe ein. Es dauerte noch eine Weile, bis sich auch der Dümmste unter ihnen an die neuen Regeln gewöhnt hatte, aber unterm Strich klappte die Umsetzung doch recht gut.
Der kleine Riese fühlte sich nun angenommen und wohl. Er merkte, wie er einerseits ein wahrer Riese und andererseits auch bei den Kleinen ein angesehene Mitglied der Gemeinschaft war. So wurde er einem der besten Diplomaten, den die Geschichtenwelt je beschrieben hat.
Seine zerstörte Gitarre baute er sich mit besonders klangvollen Hölzern bald wieder neu zusammen und wenn man in den Abendstunden ganz genau hinhört, kann man bis heute seinen Konzerten lauschen.
Text: A. Müller
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