Neulich las ich einen Blogbeitrag über die Selbstfindung und die, im besten Falle, daraus resultierende Selbstbegegnung. Ich hatte gerade nichts anderes zu tun und so machte ich mich auf, mich selbst zu finden. Ein wenig misstrauisch war ich schon, wie so eine Begegnung wohl enden würde, man weiß ja vorher nicht, wer einem da entgegen kommt. Ist mein inneres Ich freundlich und wohlerzogen, oder wohnt in mir eine miese und übergelaunte Alte, die mir aus purer Schadenfreude ein Bein nach dem anderen stellt? Allen Bedenken zum Trotz siegte die Neugier über die Vorsicht und ich schritt mutig voran. Zum Glück ist unsere Wohnung nicht so groß und so fand ich mich relativ schnell. Ich war im Flur. 

Zunächst beließ ich es bei einem zaghaften Beäugen mit reichlichem Sicherheitsabstand. Schließlich wollte ich mich nicht selbst erschrecken und mir absolut keine Chance geben, vor mir selbst wegzulaufen. Dann aber wurde ich mutiger und schaute genauer hin.

Während ich mich betrachtete, merkte ich, wie das betrachtete Ich das Betrachtende beobachtete. Ich schaute quasi auf mich, in mich und aus mir heraus. Nun, ich muss sagen, das ist ein ziemlich seltsames Gefühl. Es ist so, als hätte man überall Löcher, Schießscharten gleiche Öffnungen, die kurze Ein- und Ausblicke gewähren. Wenn man sich jedoch auf die verschiedenen Blickwinkel einlässt und der Versuchung widersteht, sich klein zu machen… ja, dann geht’s eigentlich.

So stand ich also vor mir selbst und war zunehmend gespannt, wie mein Urteil über mich wohl ausfiele. Wie so oft, wenn ich mich beobachtet fühle, überkam mich eine gewisse Nervosität.  Ich frage mich dann stets mit klammem Bauchgefühl, ob ich wirklich gut genug bin und den Anforderungen sowohl innerlich wie auch Äußerlich standhalte. 

So stand ich also im Flur und schaute mich aus dem Blickwinkel meines von mir gelösten Ichs an. Gleichzeitig schaute ich aus mir heraus auf dieses irgendwie nebulöse und kaum greifbare zweite Ich. Ich muss dazu sagen, mein Sternzeichen ist Zwilling. Das Talent zur Doppelbetrachtung wurde mir quasi in die Wiege gelegt. Aber ein wenig Überwindung kostete mich diese Glotzerei trotzdem.

Im Flur wurde es mit der Zeit etwas unbequem, er ist für solche Übungen nicht ausgelegt. Er ist so schmal, dass man nicht ohne anzuecken, die Dinge einfach so drehen und wenden kann. Außerdem kreuzte mein Liebster immer wieder von einem Zimmer ins andere den Flur, so dass ich das äußere Ich mit einer kurzen, auffordernden Kopfbewegung ins Wohnzimmer auf die Couch einlud. Dort begann dann die eigentliche Selbstbetrachtung, jetzt wo ich mich endlich gefunden hatte. 

Das eine Ich, also das leibliche, ist eine nicht besonders groß gewachsene Mittfünfzigerin, die langsam an den Rändern leicht schrumpelig wird. Das losgelöste, äußere Ich bringt den Vergleich mit einem Lieblingstshirt ins Spiel: ziemlich oft und gerne getragen, immer wieder gewaschen und durch die unzähligen Schleudergänge in der Waschmaschine des Lebens nun ein wenig verknittert und ausgebleicht. Aber eben immer noch ein Lieblingsshirt!

Trotz seines Alters wird das gute Stück immer noch von stabilen Nähten gehalten. Es ist nicht mehr ganz so eng anliegend, wie noch vor einigen Jahren, an manchen Stellen schlabbert es sogar bedenklich. Mein zweites Ich hält sich jedoch nicht lange mit der Betrachtung des Leiblichen auf. Sie scheint entweder uninteressant oder vielleicht auch unwichtig zu sein. Ich schaffe es mit einiger Mühe, aufkommende Panik zu unterdrücken, sehe dann allerdings aus dem Augenwinkel die Konditionierung meiner Jugendjahre vorbei huschen. Ich kann mich zwar nicht erinnern, auch diese Weggefährtin aus lange zurückliegenden Zeiten zu diesem Selbstbegegnungsseminar eingeladen zu haben. Aber gut, wenn sie schon mal da ist. Auf der Couch hat es Platz.

Ich gehe der Konditionierung (jetzt, wo ich sie endlich erkannt habe) also nicht länger auf den Leim und entscheide mich für die Bewertung „nicht so wichtig“ bezüglich der äußeren leiblichen Form. Was wohl mein zweites Ich dazu sagt? Das grinst nur und nickt. Wie gut, dass wir uns einig sind.

In all den Jahren, in denen ich nun schon mit mir zusammen leben, waren meine beiden Ichs nicht immer einer Meinung. Die Folge waren dann wochenlange Streitereien, ein Hin und Her der Gefühle und am Ende oftmals ein halbherziger Friedenspakt. Was hätte ich auch anderes tun können? Mir kündigen und mich auf die Suche nach einem neuen Ich machen? Eine Trennung von einem meiner beiden Ichs hätte da schnell einen finalen Charakter bekommen können. Nein, ich blieb lieber bei mir selbst. Da wusste ich wenigstens ansatzweise, mit wem ich es zu tun habe. 

Überhaupt: dieses losgelöste Ich konnte nicht nur in der Vergangenheit eine echte Nervensäge sein. Es ist bis heute eine geblieben.

Wenn ich am Ende eines langen Tages müde auf die Couch sinke, dreht es erst so richtig auf. Unermüdlich feuert es Ideen, Gedanken, Gefühle auf mich ab, als gäbe es kein Morgen. Fahnenschwenkend schreit es dabei „Lebe im Hier und Jetzt“ und ich denke dann nur müde, welch ein Arschloch doch in mir wohnt. Eine Flucht vor mir selbst in diesen Momenten könnte hilfreich sein, aber wer schon einmal versucht hat, vor sich selbst abzuhauen, weiß wie schwierig das ist. Meistens holt man sich, ganz egal wie schnell man rennt, am Ende doch selbst ein. Oder man stolpert über die eigenen Füße. Soll ja auch vorkommen. Also bleibt mein leibliches Ich lieber auf dem Sofa hocken und lässt den Schreihals in mir noch ein wenig toben. Meist beruhigt er sich dann von ganz alleine. 

Eine ganze Weile blieben meine beiden Ichs noch auf der Couch sitzen. Sie hatten es im Grunde ganz gemütlich miteinander, wenn man von ein paar trennenden Kleinigkeiten einmal absieht.

Immer wieder ließen sie gegenseitig die Blicke über sich schweifen und hielten sich dabei einen Spiegel vor. Manchmal blickte das eine Ich sehr ernst auf das Andere und trug ziemliche Beschwerden vor, manchmal aber steckten beide die Köpfe zusammen und kicherten in trauter Zweisamkeit.

Wer also nun Lust bekommen hat, sich auch einmal selbst zu suchen und das Risiko eingehen will, sich auch zu finden, dem sei ans Herz gelegt:

Nicht alles was man findet, findet man auch schön. Aber ohne die bisweilen hässlich anmutenden Ecken unseres Selbst, könnten die Schönen nicht so herrlich strahlen.

Also seid gnädig mit euch und tretet der Konditionierung (sie macht meist mit Störmanöver auf sich aufmerksam) einfach mal ordentlich in den Hintern. Dann haben auch eure Ichs was zu lachen. Denn nichts ist schöner, als kichernd auf der Couch die Köpfe zusammenzustecken.

Text: A. Müller