Erst gestern haben wir noch telefoniert. Wir haben gescherzt und gelacht, du hast dich nach den Kindern erkundigt und wir haben Pläne für die nächsten Wochen gemacht. Alles war wie immer. Normal, unspektakulär, ja, fast ein wenig langweilig. Wir sprachen noch darüber, wie wir unseren Leben in diesen Zeiten ein wenig mehr Pep verleihen könnten. Ein bisschen Glanz könne schließlich nicht schaden sagtest du und ich konnte förmlich das Schmunzeln in deinem Gesicht sehen. Dieses verschmitzte Lächeln, das deinen Blick so warm und liebevoll macht und bei dem deine Nasenspitze sich so lustig nach oben reckt. Habe ich dir jemals gesagt, wie sehr ich dein Lächeln liebe?
Ich wünschte, ich hätte es getan, denn nun kannst du mich nicht mehr hören. Von einem Moment auf den anderen hat sich alles verändert. Ohne Warnung blieb dein Herz einfach stehen. Du standest mitten im Leben, wie kann man denn da so plötzlich sterben?
Wir dachten, es wäre noch so viel Zeit. Mit dem Tod hatte niemand von uns gerechnet. Es war, als ob er uns nicht beträfe. Wir sind noch jung. Wir sind gesund. Wir haben noch so viel vor. Soll der Tod sich doch die Alten, die Schwachen, die Kranken holen!
Der Tod trifft seine eigenen Entscheidungen, er wählt selbst aus und läßt sich nicht dreinreden. Er ist jedoch gnädig genug, um die Erinnerungen an dich hier zu lassen. Doch diese Gnade schmerzt so tief. Gestern noch machte mich der Gedanken an dein Lächeln glücklich. Heute breche ich darüber in Tränen aus.
Ich wußte nicht, wie sehr ich dich einst vermisse. Ich wußte nicht, wie tief du dich in mein Herz gegraben hattest. Du warst immer so selbstverständlich da und ich merke erst jetzt, wie besonders du gewesen bist.
Ich schaue aus dem Fenster in den Garten. Wut steigt in mir empor. Da draußen leuchtet die Welt in bunten Herbstfarben! Noch nie ist mir die Unverschämtheit dieses Farbenspiels aufgefallen. Sattes Rot und Gelb gaukeln Lebensfreude vor und übermalen mit ihrer Leuchtkraft den kommenden Tod. Im Herbst schauen wir der Natur beim sterben zu und finden es auch noch schön! Wir sammeln Blätterleichen und dekorieren damit unsere Zimmer. Ich muss die Augen schließen, keinen Augenblick länger kann ich diese Farben und dieses Licht ertragen.
Würdest du noch leben, gingen wir gemeinsam hinaus in den Wald. Wir würden uns lachend mit Laub bewerfen, würden den Duft der feuchten Erde genießen und uns an den Farben des Herbstes erfreuen.
Aber du lebst nicht mehr und ich rieche nur den unangenehmen Geruch der vermoderten Blätter. Ein Geruch, der in meinen Gedanken eingesperrt ist, wie in einem Gefängnis. In meinem Kopf drehen sich übel riechende Gedanken. Von einem Tag auf den anderen hat sich mein Blick auf die Welt, mein blick auf mich selbst vollkommen verändert.
Meine Welt bleibt stehen, aber die Welt da draußen bewegt sich weiter. Ob ich jemals wieder in den Takt der Welt komme, so allein ohne dich? Je länger ich nachdenke, desto größer wird die Lücke, die du hinterläßt. Wen soll ich zukünftig um Rat bitten? Mit wem kann ich so vertraut schweigen? Darf ich diese Lücke eigentlich schließen, ohne unsere Freundschaft zu verraten? Will ich diese Lücke überhaupt schließen, oder bleibt der Platz für dich reserviert? Dein Tod wirft so viele Fragen auf.
Gestern noch hast du von ein wenig mehr Glanz im Leben gesprochen. Heute ist alles matt, düster und trostlos. Dein Tod ist wie eine undurchdringliche Nebelwand aufgezogen, ich bewege mich tastend, suchend, hilflos durch unbekanntes Terrain. Ich weiß nicht so recht wohin ich treten soll, welcher Untergrund mich trägt und welcher unter dem Gewicht meiner Trauer nachgibt.
Die Tränen in meinen Augen, nehmen mir den Blick für den Weg, der vor mir liegt. Am besten, ich setze mich einfach auf den Boden, weine um dich und warte, bis sich der Nebel etwas löst.
Warum sollte ich jetzt auch eilen? Der Tod ist ewig, da darf ich mir gewiss ein wenig Zeit zum verharren und nachdenken nehmen. Du wärst bestimmt auch ganz schön sauer mit mir, wenn ich dies nicht tun würde. Du wußtest immer, was gut für mich ist. Manchmal wußtest du es sogar besser als ich selbst. Jetzt muss ich selbst auf mich achten. Ich sehe dein verschmitztes Lächeln „Du schaffst das schon, ich bin ja nicht ganz weg.“. Moment mal, soll das heißen, du begleitest mich noch ein Stück? Du bist noch ein bisschen da, unsichtbar zwar, aber doch irgendwie zum greifen nahe?
Ein bittersüßes Geschenk. Dankbar nehme ich es an.
Ganz langsam, wie die Blätter der Bäume, darf ich mich von dir ablösen. Ich werde es merken, wenn der richtige Zeitpunkt erreicht ist.
Bis dahin wird meine Trauer alle Farben annehmen dürfen. Rot wie die Liebe und die Wut, Gelb und Braun wie die Vergänglichkeit und nicht zuletzt das neue, frische Grün, das wie die Hoffnung nach einiger Zeit aufkeimt.
Wieder schaue ich hinaus in den Garten. Immer noch leuchtet die Welt in bunten Herbstfarben.
Ein besonders schönes rotes Blatt wird vom Wind an mein Fenster geweht.
Text: A. Müller