Die Erbenerbin No. 1 liebt Rollenspiele. Sie schlüpft dann stets in die Rolle der Mutter und ich muss das Kind spielen. Heute lautet die Vorgabe: ich bin schon ein großes Schulkind und sie erlaubt mir zum Tätowieren zu gehen. „Au ja!“ sage ich, „ich brauche noch unbedingt eine Piratenflagge.“ Sie schüttelt bedauernd den Kopf und schränkt die Möglichkeiten meiner Motivwahl gleich ein. „Nein, tut mir leid Kind, das geht nun wirklich nicht. Du kannst ein Herz haben oder etwas mit Schrift. Piratenflaggen sind etwas für Erwachsene.“
Ich kremple den Ärmel hoch, zeige ihr mein Tattoo mit der Katzenpfote und erzähle ihr von meinem Kater Jonas. Die Pfote habe ich mir zum Gedenken an meinen Herzenskater vor Jahren stechen lassen, nun trage ich ihn immer bei mir. Die Erbenerbin nickt bedächtig, ja, meint sie, das sei eine sehr gute Idee gewesen. Nun solle ich mich aber endlich entscheiden, welches Motiv mein neues Tattoo haben soll. „Dann hätte ich gerne ein Herz mit einem Schriftzug drin.“ sage ich. „Meinst du, dass ist möglich?“ Wieder dieses bedächtige und erwachsen anmutende Kopfnicken. „Das kommt darauf an“, so ihre Antwort und sie fragt gleich nach: „Was soll denn in dem Herz stehen?“ „Ja also ich dachte an die Namen Amelie und Mara. Ihr beide seid ja meine Herzensmädchen. Dann trage ich euch beide auch immer bei mir im Herzen.“
Die Erbenerbin No. 1 macht ein nachdenkliches Gesicht. „Wie kannst du denn zwei Herzensmädchen haben? Du bist doch noch ein Schulkind! Kann es sein, dass du gerade etwas durcheinander bringst?“ Sie schüttelt über mein Unvermögen ihrem Plot zu folgen den Kopf. Dann aber überlegt sie und sagt mit milder Stimme: „Aber gut, ich will es dir trotzdem erlauben.“
Puuh, Glück gehabt!
Wir spielen noch eine Weile weiter, sie macht einen Termin beim Tättowierer und die Erbenerbin No. 2 darf die Autogeräusche während der Fahrt dorthin machen. Jede von uns hat in dieser Geschichte einen festgelegten Platz und konkrete Aufgaben.
Ich vermute, wir sitzen noch im Auto, als No. 1 wissen will, wie groß so ein Herz denn sei und wie viele Leute speziell im meinem denn Platz hätten. „Ich guck mal!“ bietet sich Erbenerbin No. 2 an und macht sich zur Klärung der Frage an meinem T-Shirt zu schaffen. Die Nestelei an meinem BH lenkt mich schon ein wenig ab, dennoch versuche ich tapfer eine kindgerechte Antwort für die Große zu formulieren. „Also in meinem Herzen gibt es viel Platz.“ sage ich und muss ein Kichern unterdrücken. Erbenerbin No. 2 hat nämlich zwischenzeitlich begonnen mich zu kitzeln. „In meinem Herzen lasse ich euch beide wohnen, es hat Platz für Tiere und noch viel Raum für Lachen und Weinen, für Singen und Stille.“ Ob das als Antwort ausreicht?
„Okee“ kommt prompt die Retour, „und was ist mit Opa? Wohnt der auch in deinem Herzen? Und Mama und Papa? Dürfen die da auch wohnen?“ Ich nicke. „Ja natürlich! Sie alle haben einen Platz in meinem Herzen.“
Eine Zeitlang ist es still, die Große hängt ihren Gedanken nach. Man kann ihr förmlich ansehen, wie sie nachdenkt. Die Kleine bereitet derweil ein köstliches Mahl aus Muffins und Pommes für alle Mitspieler zu. Sie hat intuitiv begriffen, dass Denkarbeit hungrig macht.
„Oma… ääh ich meine Kind: wie viele Zimmer hat denn so ein Herz? Und wenn so viele Leute drin wohnen, ist das dann nicht ein wenig schwer zum herum tragen?“
Die konkreten Fragen zu einem abstrakten Thema machen mich stolz und unsicher zugleich. Stolz, weil das Kind sich wirklich mit einer nicht leicht zu fassenden Frage beschäftigt und unsicher, weil ich nicht so recht weiß, wie ich antworten soll.
Ich setze mich etwas bequemer hin und gleichzeitig zu einer Antwort an: „Also das ist ziemlich unterschiedlich. So ein Herz ist ein bisschen wie ein Märchenschloss. Es ist unglaublich groß und mit unglaublich vielen Zimmern ausgestattet. Und weil es ja ein Märchenschloss ist, findet es auch in kleinen Menschen genug Platz. Deshalb kann man unendlich viele Leute in sein Herz einladen. Und weil sich jeder sein eigenes Märchenschloss vorstellt, hat es bei jedem auch unterschiedlich viele Zimmer. “
„Okee“, die Erbenerbin No. 1 scheint meine Erklärung nachvollziehen zu können. Besser hätte ich es ohnehin nicht hinbekommen. „Und dann ist es auch nie schwer?“ wiederholt sie ihre Frage. Ich entscheide mich für eine ehrliche Antwort: „Doch, manchmal wird einem das Herz schon auch mal schwer. Zum Beispiel, wenn jemand, den ich lieb habe, krank wird. Oder wenn ich mir um jemanden Sorgen mache.“
Wieder denkt die Erbenerbin nach. Dann sagt sie: „Ich habe keine Sorgen.“ Die Erbenerbin No. 2 nickt zu Bekräftigung und fügt noch stolz hinzu: „Ich habe auch keine Sorgen. Ich habe Kekse!“
Ja, was will man mehr? Ein großes Herz und ausreichend Kekse. So einfach kann es sein.
Am Ende werde ich dann doch nicht tättowiert. Die Erbenerbin entscheidet, dass wir nun lieber gemeinsam etwas basteln. Also male ich auf Buntpapier unzählige Herzen, die die beiden Erbenerbinnen ausschneiden. Jeder aus der Familie soll eines bekommen. Alle Omas und Opas, alle Patentanten und alle Onkel. Die Cousinen und Cousins sollen auch nicht vergessen werden. Und vielleicht hat es ja noch Platz für ein paar kleinere Herzen für die Freunde aus dem Kindergarten.
Und irgendwie ist an diesem Nachmittag der Raum für die beiden Erbenerbinnen in meinem Herzen wieder ein Stückchen größer geworden.
Text: A. Müller
Bild: A. Müller