Alle Welt sucht das Außergewöhnliche, den Superstar, das Überdurchschnittliche. Wer sich im Durchschnitt bewegt, zählt allenfalls zum Mittelmaß und darf kein Lob erwarten.
Der Durchschnitt wird eher negativ bewertet, dabei zeigt er doch lediglich das gemeinschaftliche Niveau einer bestimmten Leitung innerhalb einer definierten Gruppe an. Man kennt es noch aus Schulzeiten: die Mathearbeit wird zurückgegeben und der individuelle Wert der erzielten Note ergibt sich erst mit Nennung des Notendurchschnitts. Ganz egal, wie hart man für diese Klausur gearbeitet hat, ganz egal, wie viel mathematisches Talent man hat: eine mit viel Fleiß errungene 3 ist nichts wert, wenn der Durchschnitt bei 2 liegt. Dann geht man mit geknickten Ohren nach Hause und muss sich eingestehen, etwas doofer als der Rest der Klasse zu sein.
Warum ist das so? Weshalb soll es so schlecht sein, in bestimmten Bereichen eine durchschnittliche Leistung zu erbringen oder sie manchmal sogar ganz zu verfehlen?
Wer sich an einem Durchschnitt messen will, muss zunächst Teil einer Gruppe sein. In einem Raum voller Meteorologen ist das Wissen über’s Wetter vermutlich recht hoch. Innerhalb dieser Gruppe gibt es sicher den einen oder anderen Spezialisten, der z.B. über Meeresströmungen und ihre Auswirkungen mehr weiß als alle anderen. Er treibt den Wissensdurchschnitt der Gruppe nach oben. Die anderen sind dennoch alles andere als doof. Sie haben vielleicht nur jeweils andere Fachgebiete innerhalb der Meteorologie.
Möglicherweise gibt es nun innerhalb dieser Gruppe von Meteorologen einen, der noch am Anfang seiner Karriere steht. Einen, der noch nicht so viel weiß und noch viele Erfahrungen sammeln muss. Er kann nun von all dem geballten Wissen innerhalb der Gruppe profitieren und seine eigenen Kenntnisse erweitern. Anstatt sich für die eigene Unterdurchschnittlichkeit zu schämen, hat derjenige nun die Chance, sein Wissen zu vergrößern.
Der Kollege mit dem Spezialgebiet bekommt für seinen Vortrag über Meeresströmungen verdienten Beifall. Alle Teilnehmer klatschen wie verrückt und loben den Vortragenden für seinen Fleiß und sein Wissen. Bis der nächste Vortragende kommt und mit einer tollen Multimedia-Show auftrumpft. Auch er bekommt viel Zuspruch und Applaus. Der nächste Redner glänzt mit herausragendem Wissen aus der Klimaforschung und das Auditorium ist begeistert. Am Ende des Meteorologenkongresses kann keiner mehr so richtig sagen, welcher Vortragende nun der beste war. Dann wird eben wieder ein Durchschnitt ermittelt…
Eines ist dabei offensichtlich: Forschertum, Neugier und die Suche nach Neuem sind der Motor der Welt. Jeder möchte in irgendeiner Form überdurchschnittlich gut sein. Man möchte sich über den Durchschnitt erheben. Die Belohnung für Blut, Schweiß und Tränen ist dann das gute Gefühl der Einzigartigkeit. Man ist besser als alle anderen.
Bis ein anderer kommt, der auch überdurchschnittlich gut ist. Schaut man sich um, sieht man immer mehr Leute, die einem das Wasser reichen können und schnell ist man innerhalb dieser Gruppe wieder nur Durchschnitt. Ein Teufelskreis.
Ständig überdurchschnittlich gut sein zu müssen oder zu wollen, kostet enorm viel Kraft. Da kann es dann schnell geschehen, dass man den Spaß an bestimmten Dingen oder den Blick auf’s Ganze verliert. Wer ständig auf sich selbst fokussiert ist, nimmt nicht mehr wahr, wie viele stille Unterstützer er hat. Ohne deren oftmals überdurchschnittliche Unterstützung und Loyalität wären viele herausragende Leistungen erst gar nicht möglich. Die Individualisten, die sich mit ihrer Überdurchschnittlichkeit brüsten und oftmals verächtlich auf ihre Helfer blicken, dürfen gerne an dieser Stelle demütig werden.
Die Durchschnittlichkeit kann übrigens auch sehr gemütlich sein. Man wird z.B. beim einkaufen nicht beobachtet und muss sich nicht fürchten, am nächsten Tag Bilder von sich in der virtuellen Welt zu finden. Keiner hält einen am Gemüsestand auf und will ein Selfie machen, niemand fordert beim Stadtbummel ein Autogramm. In der Anonymität des Durchschnitts läßt es sich gut leben, denn Fehler und Versäumnisse fallen nicht sofort auf oder werden gnädig verziehen. Kein Hadern und Zaudern, weil man es nicht bis ganz nach oben (wo ist das eigentlich?) geschafft hat, sondern die innere Zufriedenheit, sein Leben im allgemeinen doch ganz gut im Griff zu haben. Der Fokus eines durchschnittlichen Lebens liegt eben nicht nur auf einer Sache, die man besonders gut kann, sondern auf dem Gesamtpaket der Persönlichkeit und der Vielfalt der Fähigkeiten. Die Durchschnittlichkeit schützt vor dauerhafter Beobachtung und Bewertung und läßt einem ziemlich viel freien Raum.
Es ist doch gerade die Durchschnittlichkeit, die eine Gesellschaft ausmacht. Leute, die einfach ihren Job machen, sich den Aufgaben des Lebens stellen, ohne dabei im Rampenlicht stehen zu wollen. Durchschnittliche Leute mit durchschnittlichen Jobs sind es, die die Solidargemeinschaft tragen. Leute, die nach Feierabend noch ehrenamtlich tätig sind, die sich nachbarschaftlich helfen, die einander zuhören und füreinander da sind.
Jeder dieser Menschen hat ein besonderes Talent und spezielle Fähigkeiten und bringt diese unaufgeregt in die Gemeinschaft ein. Niemand muss sich schämen, wenn er Wissenslücken hat. Im Gegenteil: die gegenseitige Ergänzung von überdurchschnittlichem Wissen und das Teilen dessen, ist das Ziel.
Innerhalb einer funktionierenden Gesellschaft darf es nie nur um die (Hoch-)Leistung einzelner und deren Bewertung gehen.
In einer Gruppe oder einer Gesellschaft wird es immer eine Abgrenzung nach oben und unten geben. Das ist weder gut noch schlecht.
Je größer die Gruppe ist, desto größer ist auch die Menge derer, die sich in der Mitte befinden. Diese Mitte hält die obere und die untere Schicht fest, sie ist das Zentrum des Ganzen. Im besten Fall saugen sie Wissen von oben und geben es nach unten weiter.
Die durchschnittliche Mitte läßt es erst zu, dass die Überdurchschnittlichen glänzen können und geben jenen, die sich unterhalb des Durchschnittes bewegen, Ansporn, die Mitte zu erreichen.
Wenn man sich das mal in Ruhe überlegt, ist es doch eigentlich gar nicht so schlecht durchschnittlich zu sein.
Mir jedenfalls gefällt die Vorstellung des Durchschnitts als gesellschaftliche und wissensdurchlässige Membran.
Text: A. Müller