Heute, am 17. Oktober, ist der internationale Tag für die Beseitigung der Armut. In einer Resolution von 1992 erklärten die Vereinten Nationen diesen Tag zum Gedenktag und wollten sich fortan solidarisch mit den Ärmsten der Armen zeigen.

Es sei ihnen, also den Vereinten Nationen, ein Anliegen, den Widerstand der von Armut betroffenen Menschen gegen Elend und Ausgrenzung zu würdigen. Ebenso wollen sie den Not leidenden und ausgegrenzten Menschen Gehör verschaffen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Als Drittes wollen die Vereinten Nationen sich mit den Allerärmsten dafür einsetzen, dass die Rechte aller auch wirklich für alle gelten.

Da wird einem doch ganz warm ums Herz.

Schaut man sich jedoch die Situation armer Menschen weltweit genauer an, bemerkt man schnell, dass diese Resolution nicht das Papier wert ist auf dem sie gedruckt wurde. Überall auf der Welt leben Menschen ohne Zugang zu sauberem Wasser, ohne ausreichend Nahrung und ohne medizinische Grundversorgung. In den Städten gehören sie seit Jahrzehnten zum „Inventar“. Unter Brücken und auf Parkbänken hausend, den Einkaufswagen mit den Habseligkeiten vor sich herschiebend. So präsent das Elend ist, wird es dennoch gerne übersehen. Das gesellschaftliche Auge hat sich das im Laufe der Zeit angewöhnt, man belastet sich nicht so gerne mit dem Unglück anderer. Die Argumentation zur Rechtfertigung dieses blinden Flecks in unserer Sichtweise geht von „die sollen erst mal was arbeiten!“ bis „ich kann doch nicht die ganze Welt retten!“. 

Diese Argumentation ist äußerst geschickt, denn auf ihrer Grundlage entzieht sich die Gesellschaft jeder Verantwortung. Ja, natürlich hat man ein gewisses Mitgefühl mit den Armen in unserer Stadt und den Kindern weltweit. Man ist ja schließlich nicht gänzlich verroht. Also bringt man wenigstens ein Mindestmaß am Mitgefühl auf für die Kinder, die seltene Erden schürfen, auf Kakaoplantagen arbeiten oder in baufälligen Firmengebäuden unsere Billigkleidung zusammen nähen. Kinder, die fern jeglicher Bildung aufwachsen, weil sie selbst ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Während in unseren Breiten Kinder und Jugendliche das große Glück des behütenden Aufwachsens haben, gegen Übergewicht und Langeweile kämpfen, kämpfen an anderen Orten die Kinder ums nackte Überleben. Viele von ihnen verlieren diesen Kampf und sterben. Sie sterben, weil sie dummerweise am falschen Ort geboren wurden. Daran hat sich nach dem Inkrafttreten der Resolution von 1992 nichts geändert. Wer das Pech hat, nicht in einer der führenden Industrienationen zu leben, der muss halt schauen, wie er überlebt.

Darum reicht es nicht aus, Solidarität zu bekunden. Von Solidarität allein wird keiner satt und niemand gesund. Sie dient nur der Beruhigung des eigenen Gewissens.

Die Resolution der Vereinten Nationen ist nichts anderes als ein Lippenbekenntnis. Sie übersieht vollkommen, die verschiedenen gesellschaftlichen Voraussetzungen in den unterschiedlichen Ländern und es ist zu befürchten, dass sie in ihrem so allgemein gehaltenen Wortlaut die Wünsche der Menschen völlig übersieht. Es ist weiter zu befürchten, dass wieder einmal westliche Standards zu den international Gültigen erklärt werden und somit jenen übergestülpt werden, die ohnehin keine Kraft haben, sich zu wehren.

Wenn man sich’s genau überlegt, hat auch niemand so richtig großes Interesse daran, die Armut in der Welt zu beseitigen. Der reiche Teil der Erdbevölkerung profitiert schließlich von der Ausgrenzung und der Bildungsnot der Armen. 

Würden z.B. die Kinder in Bangladesh zur Schule anstatt zur Arbeit gehen, würde unsere Kleidung von teureren Arbeiter/innen genäht und zu einer Verteuerung der Waren führen. Da wischt man in der westlichen Welt doch ganz schnell den düsteren Schleier des schlechten Gewissens weg und freut sich über sein günstig erstandenes T-Shirt. So arg schlimm haben’s die Kinder in Bangladesh dann doch auch nicht, nicht wahr?

Würden die Kinder zur Schule anstatt zur Arbeit gehen, könnten sie die globalen Zusammenhänge erkennen und sich möglicherweise gegen diese Ungerechtigkeiten erheben. Ungebildete, unterernährte oder kranke Menschen zetteln jedoch selten einen Aufstand an. Aufstände sind nicht gut für Regierungen und für die Wirtschaft. Also wird alles mögliche dafür getan, dass die Menschen ruhig bleiben. 

Das Phänomen, auf dem Altar der Wirtschaft Menschen zu opfern, ist übrigens keines was nur arme Menschen oder die Wirtschaft der sogenannten Drittländer betrifft. Auch und gerade in den Industrienationen werden notwenige Reformen erst einmal auf ihre Wirtschaftsverträglichkeit geprüft. Aber das ist ein anderes Thema.

Eine Inschrift in einer der Marmorplatten auf dem Platz der Menschenrechte in Paris lautet folgend:

„Verfechter der Menschenrechte aus aller Welt haben sich auf diesem Platz versammelt. 

Sie haben den Opfern von Hunger, Unwissenheit und Gewalt Ehre erwiesen.

Sie haben ihrer Überzeugung Ausdruck gegeben, dass Elend nicht unabänderlich ist.

Sie haben ihre Solidarität mit all jenen Menschen bekundet, die irgendwo auf der Welt für die Überwindung des Elends kämpfen.“

Da wird einem doch ganz warm ums Herz.

Sobald sich jene armen Menschen auf den Weg machen, um in Europa oder in den USA ihre Armut hinter sich zu lassen, ist es aus mit der Solidarität. Dann werden Außengrenzen geschützt und Mauern gebaut. 

Armut, Not und Elend wollen wir hier nicht haben. Dann müßten wir uns ja konkret darum kümmern. Und wir können ja nicht alle retten….

Spürt ihr auch den kalten Wind des Egoismus?

Gibt es einen Weg aus diesem ethisch-moralischen Dilemma? Ist nicht auch dieser Text nur ein Lippenbekenntnis ohne wirkliche Konsequenzen?

Ein möglicher Weg wäre, sofern man zum wohlhabenden Teil der Weltbevölkerung zählt, genügsamer zu sein oder zu werden. Der Konsum und die Wirtschaftskraft der reichen Länder gründet sich direkt auf der billigen Arbeit der Armen dieser Welt. Sie zahlen den Preis, den wir meist locker selbst bezahlen könnten. 

Während wir hier für unsere Rechte streiten und kämpfen, treten wir (meist unbewußt) die Rechte der Armen mit Füßen. 

Welche Wege gibt es noch? Wo muss angesetzt werden, um die schlimmsten und gröbsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen? 

Brauchen wir noch mehr Resolutionen? 

Es darf gerade heute, am 17. Oktober, dem internationalen Tag zur Beseitigung der Armut, diskutiert werden. 

Text: A. Müller